Warum fährt man eigentlich nach Wetzlar? Lohnt sich das überhaupt noch 240 Jahre nach Goethe? Und auch der Bursche fuhr ja eigentlich nur zum Praktikum hin. Eigentlich. So, wie er eigentlich nach Leipzig gekommen war, um Jura zu studieren. Bei Goethe ist immer alles ein bisschen anders. Und auf der Suche nach der großen Liebe war er auch immer. Auch in Wetzlar. Daraus wurde ja dann der erste deutsche Bestseller.

Es ist erstaunlich, wieviele deutsche Städtchen heute eine Reise wert sind aus rein literarischen Gründen. Man könnte einen funktionierenden Deutschlandtourismus allein mit Orten organisieren, an denen steht: “Goethe war hier”. Hier hat er auf die Postkutsche gewartet, hier hat er Quellwasser getrunken. Hier ist er gewandert. Hier hat er ministriert. Hier hat er Lottchen Briefchen geschrieben. Erfolglos, wie man weiß. Im 18. Jahrhundert war das noch ein bisschen strenger als heute mit der Partnerwahl und der Ehe. Da half alles Schöne-Augen-Machen nichts.

Was Johann Wolfgang in Leipzig mit der selbstbewussten Katharina Schönkopf erlebte, wiederholte sich in Wetzlar mit der klugen Charlotte Sophie Henriette Buff, Tochter des Amtsmanns Heinrich Adam Buff: Sie schlug die feurige Liebe des Dichters aus und heiratete ein Jahr nach Goethes Praktikum am Reichskammergericht ganz vernünftigerweise den Legationssekretär Johann Christian Kestner. Als gebildete junge Frau musste man schon darauf achten, sich eine gesicherte Existenz zu erheiraten. Goethe wusste das nur zu gut. Aber er wusste auch, wie verletzend eine nicht-erfüllte Liebe ist.In Wetzlar passierte es auch, dass sich ein alter Bekannter aus seinen Leipziger Studientagen, Karl Wilhelm Jerusalem, das Leben nahm. 1772, in Goethes Wetzlar-Jahr, erschoss er sich – nicht nur wegen der unglücklichen Liebe zu einer verheirateten Frau namens Elisabeth Herdt, sondern auch, weil die ganze Stadt darüber tratschte. Und gemobbt wurde er von seinen Vorgesetzten auch noch. Auch wenn Wetzlar freie Reichsstadt und seit 1689 Sitz des Reichskammergerichts war, Wetzlar war ein Nest. Mit schönen Fachwerkhäusern. Keine Frage. Aber als das Reichskammergericht 1689 aus dem zerstörten Speyer umziehen musste, hatte man in Wetzlar Schwierigkeiten, überhaupt ein präsentables Haus für das kaiserliche Gericht zu finden. Da mussten dann die Ratsherren aus ihrem Ratshaus ausziehen und sich ein neues besorgen.

Zu Goethes Zeit war das Städtchen an der Lahn geprägt von einer Elite von Prokuratoren und Assessoren. Da achtete man auf standesgemäßes Verhalten. Da blieb nicht viel Platz für wilde Leidenschaften. Der Rest ist ja – in kompakter Briefform – nachzulesen in “Die Leiden des jungen Werthers”, 1774 auf der Leipziger Buchmesse frisch zu kaufen. Aus seinem Bekannten Jerusalem wurde Werther (in dem natürlich auch noch eine Menge Goethe steckt), Charlotte bekam den Namen Lottchen. Und 240 Jahre später ist kaum noch vorstellbar, was dieses Buch für ein Aufschrei war, wie es den Nerv der Zeit traf. Freie Partnerwahl war selbst in den “höheren Kreisen” nicht die Norm. Ehen waren wirtschaftliche und zweckbestimmte Beziehungen. Und das Wörtchen “standesgemäß” hatte noch eine ganz andere Bedeutung als heute.

Warum also nach Wetzlar fahren? – Natürlich auch wegen des Reichskammergerichts. Immerhin ein ganz altes Stück deutscher Justizgeschichte, das 1806 zu Ende ging, nachdem der Kaiser des Heiligen Reiches Deutscher Nation sein Amt niedergelegt hatte. Napoleon war schuld. Seitdem brauchte es kein Kammergericht mehr für das nicht mehr existierende Reich. Ein “Reichkammergerichtsmuseum” aber gibt es in Wetzlar – Juristen fahren schon deshalb hin.

Und so wie die internationale Gemeinde der Liebenden und der Shakespeare-Freunde nach Verona pilgern, um den Balkon zu sehen, von dem aus Julia zu Romeo hinunterschmachtete, so ist Wetzlar die Pilgerstätte aller romantisch Liebenden. Denn natürlich – Goethe war ja da. Und die Orte, die er literarisch gestaltet hat, sind geheiligt. Und irgendwie haben auch die Wetzlarer die Schönheit dieser Liebesgeschichte früh für sich entdeckt. Und wie das so ist: Sie haben früh herausgefunden, wen Goethe da literarisch verwandelt hat. Heute sind diese Orte Museum und können besucht werden – das Lottehaus an der Lottestraße natürlich zuallererst, das heute wieder so hergerichtet ist, wie es zu Goethes Zeit war und wo er Charlotte erleben konnte mit ihren 14 jüngeren Geschwistern, um die sie sich kümmern musste, nachdem ihre Mutter früh gestorben war. Wirklich viel Zeit hatte Lotte für den Jura-Praktikanten wirklich nicht.Und zu besichtigen ist natürlich auch das Jerusalemhaus am Schillerplatz, das natürlich nicht Jerusalem gehörte. Er hatte nur eine kleine Wohnung in der zweiten Etage, so wie auch Goethe eine kleine Wohnung im Haus des Kammergerichtsprokurators von Ludolf hatte. “Über Goethes Aktivitäten am Reichskammergericht ist nichts bekannt”, schreibt Pia Thauwald, die diesen Ein-Tages-Stadtführer für Wetzlar zusammen gestellt hat. Gebraucht für seine Karriere hat er das ja sowieso nicht, er wollte nie Jurist werden. Aber Goethes Wohnung ist in diesem Fall einmal nicht zu besichtigen. Alles, was zu seiner Wetzlar-Zeit zu sagen und zu zeigen ist, kann man im Lottehaus besichtigen.

Im Jerusalemhaus ist eine kleine Jerusalemausstellung zu sehen – arrangiert wie in den letzten Szenen aus dem “Werther” – samt der “Emilia Galotti” auf dem Schreibtisch. Und da sich in diesem alten Wetzlar nicht allzu viel geändert hat seit Goethes Aufenthalt, kann man wirklich einmal die Atmosphäre schnuppern, in der eines der erfolgreichsten deutschen Bücher heranreifte. Dazu gehört natürlich auch das Wohnhaus der Hofrätin Susanne Maria Cornelia Lange, Schwester von Goethes Großmutter. Sie hatte ihren Großneffen mit der Familie von Heinrich Adam Buff – und damit auch mit Lottchen – bekannt gemacht. Der junge Mann sollte ja nicht ganz einsam sein in seiner Praktikantenzeit.

Wahrscheinlich hat sie sich nachher große Vorwürfe gemacht und gesagt: Was soll aus dem Jungen nur mal werden! – Aber da war er dann schon Hals über Kopf geflüchtet.

Eher für Überraschung sorgen wird die Tatsache, dass man beim Wetzlar-Besuch auch über zwei berühmte deutsche Unternehmen stolpert: Buderus und Leitz. Letzteres nicht die Aktenordnerfirma, sondern die optische, aus der die berühmte Kleinbildkamera Leica hervorging. Die beiden Anlaufpunkte für die Technikfreunde sind das Stadt- und Industriemuseum gleich neben dem Lottehaus und das Viseum Wetzlar in dichter Nachbarschaft.

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Wetzlar an einem Tag
Pia Thauwald, Lehmstedt Verlag 2014, 4,95 Euro

Der ganze Rest der 33-Stationen-Tour (auf der Karte ist noch eine geheimnisvolle Nr. 34 verzeichnet) lässt eine noch fast in ihren mittelalterlichen Strukturen existierende Altstadt sichtbar werden mit ihren beiden alten Märkten, einem zur Freiluftbühne umgebauten Friedhof, Resten der Stadtbefestigung und etlichen eindrucksvollen Fachwerkhäusern, liebevoll restauriert. Ein Städtchen für Leute, die das Reisen geruhsam angehen, sommerliche Freisitze in winkligen Gassen mögen oder Dome, die einfach nie fertig wurden. Wetzlar hat einen solchen. Und die Lahn fließt auch durch, so ein Flüsschen, das sich die Leipziger durchaus zum Vorbild nehmen könnten, denn dort pflegt man “ökologisch-nachhaltigen” Wassertourismus – mit Kanus.

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