Der Literaturwettbewerb des MDR, den es seit fast 20 Jahren gibt, ist eigentlich ein Kurzgeschichtenwettbewerb. Als solcher ist er einer der begehrtesten in Deutschland, erst recht, seit er auch für Profis geöffnet wurde. Rund 1.500 Einsendungen erreichen die Jury jedes Jahr. Dann wird gefiltert, bis sieben Kandidaten beisammen sind, die im Finale in Leipzig um den Lorbeer miteinander lesen.

Eigentlich ist der Lorbeer eher ein bisschen Geld, das man als junger Autor in Deutschland auch ganz gut gebrauchen kann. Und auch wenn gestandene Autoren mitmachen dürfen, ist das Teilnehmerfeld im Schnitt doch ein junges. Denn aus junger Perspektive ist der Wettbewerb natürlich eine Art Türöffner. Für manchen heute gefeierten “Jungautor” war die Teilnahme am MDR-Literaturwettbewerb der erste Erfolg. Und ein Erfolg ist schon die Einladung zum Finale. Ein gewisser Erfolg ist auch schon die Aufnahme in den Auswahlband zum Wettbewerb, der – anders als früher – nicht erst weit nach dem Wettbewerb erscheint, sondern pünktlich zum Finale schon vorliegt. So dass natürlich noch nicht angegeben werden kann, wer am Ende tatsächlich die Preise abgeräumt hat.

Sieger im 2014er Wettbewerb Anfang Mai wurde der Berliner Stefan Ferdinand Etgeton. Platz 2 und 3 belegten Sarah J. Ablett und mit Kathrin Schmidt eine gestandene Autorin. Dominiert wurde zumindest die Auswahl des Wettbewerbs von den zwischen 1980 und 1990 Geborenen. Sarah J. Ablett (1983) und Stefan Ferdinand Edgeton (1988) gehören natürlich dazu. Jan Fischer, von dem die Titelgeschichte “Die Taubenjägerin” stammt, natürlich auch. Er wurde 1983 geboren.

Im Vorwort beschäftigt sich Herausgeber Michael Hametner einmal mehr mit der Frage, was eine gute Kurzgeschichte ausmacht. Was erstaunlich ist, denn die meisten der 25 im Band versammelten Geschichten würden seinen Maßstäben eigentlich nicht genügen. Was nicht neu ist. Aber jedes Mal aufs Neue zu erwarten ist, denn Texte entstehen ja nicht im luftleeren Raum, sondern in einem Kosmos, in dem Erwartungen, Ansprüche, Gewohnheiten auch den Umgang mit Texten beeinflussen. Die Deutschen sind zwar ein sehr theorieverliebtes Volk. Aber wenn es um Literatur geht, steckt in jeder Theorie auch immer eine tiefgründige Erwartung. “Literarisches Schreiben” ist hierzulande etwas völlig anderes als etwa in den pragmatischen angelsächsischen Ländern. Und man mag über Schopenhauer, Freud und Goethe stöhnen: Aber ihr Grübeln, ihr Nachsinnen über die Welt, das Leben und den ganzen Rest stecken tief in der deutschen Literaturtheorie und -praxis. Bis in die Jurys und Wettbewerbe hinein.
Deswegen unterscheiden sich “literarische” Texte oft deutlich von dem, was man zum Beispiel auf Lesebühnen zu hören bekommt. Als würden die Autoren aus völlig verschiedenen Welten berichten.

Was überwiegt und diesen Band wieder auf besondere Weise interessant macht, ist die Analyse. Die oft genug Selbstanalyse ist. Das ist nicht neu. Junge Autoren in Deutschland neigen dazu, sich und ihre Gefühle ungemein wichtig zu nehmen, ihr Dasein zu analysieren, zu werten und immerfort nach dem Sinn von alledem zu fragen. Oder zu suchen. Oft genug mit einer quälenden Beharrlichkeit. Was dann logischerweise bestimmte Themen in den Mittelpunkt ihrer Geschichten rückt – das Außenseitertum, die Sehnsucht nach Liebe und belastbarer Partnerschaft, das Hadern mit der Enge der eigenen Familie, den unerfüllten Erwartungen an das Leben und die anderen. Wer jung ist, kennt das alles und weiß auch, wie einsam man sich dabei fühlen kann – und wie hilflos, wenn man mit all seinen großen Erwartungen doch wieder scheitert. Oder verlassen wird. Oder in Situationen landet, wie sie auch Kafka nicht besser hätte ausdenken können.

Der Drang zur Psychologisierung ist typisch. Deutsch, könnte man sagen. Und er hat auch in diesem Jahrgang nicht nachgelassen, obwohl man den besten Texten im Buch zugestehen muss: Sie gehen spielerisch mit dieser Not um. Etwa der Sieger, Stefan F. Edgeton, der schon in allen möglichen deutschen Universitätsstädten unterwegs war und sich dort augenscheinlich durch all die prekären Zeitverträge gehangelt hat, die Deutschland seinem klugen Nachwuchs hinhält wie eine Mohrrübe. Aber er macht nicht den perfiden Betrieb in den heruntergesparten Hochschulen zum Thema, sondern ein Jahr, das ihn just nach Halle an der Saale verschlug – und das auch noch in den härtesten aller Hallenser Stadtteile: nach Halle-Neustadt. Das hätte schon zu einer rabenschwarzen (oder betongrauen) Geschichte Stoff gegeben, aber er begegnet glücklicherweise in dieser seltsamen Stadt auch einem seltsamen Mädchen, mit dem er aus dem Aufenthalt doch etwas ganz Schönes macht. Das nur leider endet – erstens weil der Held wieder abreisen muss und zweitens, weil die Schöne keine Lust hat mitzuziehen. Auch so können deutsch-deutsche Begegnungen ausgehen. Aber weil es Edgeton mit liebevollem Witz erzählt hat, ist es auch eine schöne, liebenswerte Geschichte geworden. Nur das mit der konsequenten Kleinschreibung war schon bei den Grimms närrisch. Wer gut erzählen kann, braucht so etwas nicht.

Die Geschichte ist im Grunde symptomatisch für das, was die anderen jungen Leute in ihren Texten zu erzählen haben. Man landet in seltsamsten Absteigen, wo man irgendwie versucht, sich ein Leben einzurichten (“Die Taubenjäger”) und “Kaltwasser” (von Marcella Melien), man verortet die Sehnsucht irgendwo anders und begreift den Ort, wo man gerade gelandet ist, bestenfalls als Transit oder Wartestation – wie in Fabian Hirschmanns “In Gedanken: Rio” oder Nadine Kaufmanns “Überland”. Mancher merkt dabei gar nicht, dass der Transit schon alles ist und das Leben sich ganz allmählich in ein dauerndes Warten auf Irgendwas verwandelt hat.

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Die Taubenjägerin
Michael Hametner (Hrsg.), Poetenladen Verlag 2014, 12,80 Euro

Natürlich steckt da auch der jugendliche Anspruch drin: So soll es mir mal nicht ergehen. – Aber was bewahrt einen davor? – Sehr prägnant erzählt Dilek Güngör davon in “Später”. Wer aufmerksam liest, merkt schnell, dass gerade die jungen Geschichten in diesem Band Geschichten vom Reisen sind. Sie beschreiben exemplarisch den Zustand des Noch-ist-alles-möglich und damit auch die Angst, sich zu entscheiden. Auch die lähmende Angst vor den Folgen. Was natürlich animiert dazu, in beklemmende Rollen zu schlüpfen, wie es Meike Büttner in “Paragraph 218” tut oder Dominik Grittner in “Mandala”. Denn nicht nur für Berufe, Partner, Lebensorte muss man sich entscheiden – wer sich für Partnerschaft entscheidet, entscheidet sich auch für das Unberechenbare, das Kinder immer sind.

Auffällig ist, wie sehr sich diese junge Sicht aufs Leben von dem unterscheidet, was einem deutsche Medien gern weismachen wollen über diese seltsame Jugend. Oder unterscheiden sich Schreibende so sehr von ihren Altersgefährten? – Wohl eher nicht. Nur lassen sie sich schlechter ablenken. Wer schreibt, entschließt sich zur konzentrierten Arbeit. Und – siehe oben – zur Beschäftigung mit sich selbst, seinen Gefühlen und Erwartungen an die Welt da draußen. Und siehe da: Die flippige, spritzige Jugendwelt der Medien gibt es hier gar nicht. Als würde sie irgendwo anders, auf einem anderen Planeten existieren, völlig unwichtig sein. Und vor allem hilft sie kein bisschen in dieser prekären Lage: jung sein zu müssen und doch aus seiner Haut zu müssen.

Was in einigen Geschichten nur in der Phantasie geschieht – bei Maria-Christin Fuchs zum Beispiel in “Luftschiff (gestickt)” oder bei Lena Hach in “Mittagpause”. Aber was heißt hier: nur in der Phantasie? – Phantasie kann manchmal etwas Fürchterliches sein, alle Kräfte binden und so quälen, wenn die Wirklichkeit nicht mithalten kann. Das Glück der Schreibenden: Sie können ihrer Phantasie die Zügel schießen lassen. Am Ende wird’s wenigstens ein heillos wilder Ausflug ins Beinah-Mögliche. Gerettet. Oder vielleicht auch nur beinah. Denn manchmal treibt es einen über die Grenzen hinaus, dann sitzen die Verletzungen tief wie in Hannah Häffners “Unter allen Häuten”.

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Leben ist gefährlich. Auch manchmal sind es Momente zwischen Jetzt-gleich und Lieber-nicht, die die Weichen stellen – wie in Eva Zimmermanns “Carolina”, einer dieser unverwechselbaren Beinah-Geschichten, die das Leben ausmachen. Manchmal merkt man es und bekommt eine Gänsehaut, manchmal weiß man erst viel später, dass man so einen Moment verpasst hat. Wenn man jung ist wie die Mehrzahl der in diesem Band vertretenen Autorinnen und Autoren, dann hat man zumindest ein Gespür dafür, dass es so ist. Und dass man mit einer Entscheidung alles, alles falsch machen kann.

Dass es auch ein wenig leichter geht, zeigt Martina Klein in ihrer Amerika-Geschichte “Wie Kondensstreifen”. Eine Geschichte, die gerade durch ihre Leichtigkeit deutlich macht, wie ernsthaft junge Leute in unserer Literaturgegend die Sache mit dem Leben nehmen. Ein sehr ernsthafter Jahrgang, könnte man sagen. Ein sehr vertrauter Jahrgang. Der zwar keinen knackigen Kurzgeschichten im amerikanischen Sinn schreiben kann (damit vielleicht auch nicht in Wettbewerbsrunden aufschlagen könnte), aber eindringliche Ein-Drücke aus dem Panoptikum ihres Lebens, das ein seltsames ist, wenn man es recht betrachtet. Aber wer nimmt sich mal die Zeit zu so einer Betrachtung?

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Die Sieger 2014:
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