Auf stille, fast störrische Weise setzt der zweiteilige Bildroman "Das pure Leben" sich mit dem mittlerweile zum Wanderpfennig gewordenen Spruch Adornos auseinander "Es gibt kein richtiges Leben im falschen", nach 1990 oft genug wie ein Vorwurf gebraucht an die Ostdeutschen: Wie konntet ihr diese schreckliche DDR nur so lange ertragen? - Dabei hatte Adorno den Satz ganz und gar nicht auf die DDR gemünzt.

Er erschien 1951 in Adornos “Minima moralia”. Und diese schrieb Adorno 1944 bis 1947 im us-amerikanischen Exil nieder. Es war das Leben im Faschismus, das er hier in einer Sentenz zusammenpresste, die laut Wikipedia in ihre ursprünglichen Form lautete: “Es läßt sich privat nicht mehr richtig leben.” Was den Fokus völlig ändert. Nicht der Betroffene ist schuld daran, dass er unter falschen Bedingungen nicht (mehr) richtig leben kann, sondern die Bedingungen sind es, in der Regel Regierungen und Regime, die keine Skrupel kennen, bis ins private Leben hineinzuregieren, eigentlich bis in die Köpfe hinein.

Und das trifft nicht nur auf Staaten zu, die man so gern als Diktaturen oder Regime bezeichnet. Wenn es so einfach wäre, wäre die Welt eine andere. Und es würde sich auch nicht lohnen, darüber nachzudenken, ob es in der DDR ein “richtiges” Leben gab. Denn auch das steckt ja in Adornos Sentenz: Diese Entscheidung trifft auch nicht der Staat. Es ist eine persönliche. Es ist eine Frage, die jeder sich selbst stellt. Oder stellen sollte. Die Wahrheit ist natürlich: Die Meisten stellen sie sich gar nicht. Sie leben ihr Leben einfach, nehmen die Dinge, wie sie sind, passen sich an, machen das Beste draus und versuchen, so gut es geht, dabei ihre Würde zu bewahren.

Das waren jetzt zwei flotte Schritte zur Seite. Und wir sind bei dem, was der Fotograf Arno Fischer nach 1990 über sich und die Arbeit seiner Kollegen gesagt hat, die in der DDR das Leben abseits der offiziellen Propaganda-Ereignisse fotografiert haben, man habe eben einfach “das pure Leben” fotografiert. Eindrucksvoll, mit verständnisvollem Blick. Die rund 60 Fotografinnen und Fotografen, aus deren Werk Mathias Bertram die Bilder für die beiden Fotobände ausgewählt hat, hätten mit der selben Anspruchshaltung auch in Spanien, Italien oder Polen fotografieren können und ebenso Gültiges geschaffen. Ihre Bilder sind authentisch und zeigen jene Welten, in denen Menschen tatsächlich zuhause sind. Manchmal gezwungenermaßen. Ihre Arbeitsbedingungen können sie sich selten aussuchen. Und der Versuch der DDR, wirtschaftlich mitzuhalten und die eigenen Ansprüche erfüllen zu können, führte in den langsam verschleißenden Betrieben natürlich zu Maloche und mehr als rußigen Zuständen.

Was dann über einen der nächsten flapsigen Sprüche nachdenken lässt, die Witzelei über die Vollbeschäftigung in der DDR, die dann doch nur verkappte Arbeitslosigkeit war. Viele eindrucksvolle Bilder auch in diesem zweiten Band zeigen, dass es nicht so war. Zumindest für viele Malocher in den Schächten, Werkstätten, Stanzhallen, Spinnereien. Es waren keine Faulenzer, die da im Herbst 1989 auf die Straße gingen, sondern zum großen Teil frustrierte Arbeiter und Arbeiterinnen, die so auch nicht mehr arbeiten wollten – mit völlig verschlissenen Maschinen, Materialengpässen und einem geradezu beschämend dünnen Angebot in den Kaufhallen.
Dieser zweite Band des Projektes macht im Grunde sichtbar, was die heutigen politischen Grabenkämpfe fast völlig zugekleistert haben: Wie sichtbar für die Bürger der DDR der Widerspruch war zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Das hält man vielleicht ein paar Jahre aus, wenn es gilt, ein Land nach einem zerstörerischen Krieg wieder aufzubauen und wettbewerbsfähig zu machen, wie es im ersten Band “Das pure Leben” für die Jahre 1945 bis 1975 sichtbar wurde. Da ist auch die Aufbruchstimmung noch spürbar und die Hoffnung, dass man es vielleicht doch schaffen würde.

Doch die Fotos ab 1975 sind eher von Melancholie, Abschied, Müdigkeit geprägt. man macht zwar unermüdlich weiter, leistet auch Ausbildungshilfe für die Länder Afrikas. Doch die Hinterhöfe und Kleinstadtstraßen der 1980er Jahre sind genauso trist und von der Zeit gezeichnet wie die der 1970er Jahre, die Arbeitsbedingungen oft genug schäbig und ungesund. Wie aus der Zeit gefallen wirkt der “Politische Agitator”, den Gerhard Weber noch 1983 fotografiert hat – brav hat er an der Tafel die Phrasen unterstrichen, die sich die erwachsenen Teilnehmer eines Lehrgangs mal wieder einbläuen sollen. Er wirkt genauso befremdlich wie die völlig frustrierten FDJ-Ordner, die Harald Hauswald 1988 bei einem Konzert von Bruce Springsteen fotografiert hat. Es war nicht nur die Bevölkerung, die sich den regierenden Funktionären und ihrem Apparat immer mehr entfremdet hatte. Selbst die Funktionäre – selbst die kleinen in der FDJ – müssen sich vorgekommen sein wie Marsianer, die es mit einem Volk zu tun hatten, das eine völlig andere Sprache sprach, andere Träume und Ziele hatte.

Der Offizier, den Jörg Knöfel in der U-Bahn ablichtet, schaut lieber angestrengt “Die Augen links!”, nur um den stolz da sitzenden Punk an seiner Rechten nicht wahrnehmen zu müssen. Es ist tatsächlich “das pure Leben”, das die selbst immer nervöseren und kritischeren Fotografen eingefangen haben, in den späten Jahren auch immer mutiger beim Austasten der Grenzen. Wo berührten sich sich die Welten der ganz normalen Bürger mit den Sphären der Macht und ihrer Vertreter? Was war von all den unter Verdacht stehenden Lebenswelten der Jugendlichen, der Künstler, der Dichter schon darstellbar? Oder geduldet? Denn einige der im Band vertretenen Fotografen hatten es all die Jahre immer wieder mit der Stasi zu tun, wurden in ihrer Arbeit behindert und schikaniert, mussten auch um ihre Fotobestände fürchten.

Wie eine Klammer sind die Fotos von jenen Menschen, die anfangs – wie Wolf Biermann – einfach ausgesperrt wurden oder dann in den 1980en ihre Sachen packten und ausreisten. Was auch in diesem Band ja nicht das Ende ist. Da sind – jetzt wohl für alle Ewigkeit – die Fotos von den Montagsdemonstrationen, in denen der gesamte “Gefühlsstau”, wie es der Hallenser Psychologe Hans-Joachim Maaz nennt, aufbrach, sich in echte Emotionen der Hoffnung, der Freude, der Lebenslust verwandelte.

Aus westlicher Perspektive ein bis heute gern lächerlich gemachtes Bild, wie die DDR-Bürger dann mit ihren Trabis in den Westen knatterten und staunten und den Mund nicht mehr zubekamen. Auch das hat mit dem Gefühl zu tun, das im Grunde seit Biermanns-Ausbürgerung über dem Land gelegen hatte: Dass es ab da keine Kommunikation mehr gab zwischen Oben und Unten, dass alles nur noch einen müden Gang ging. Relativ sparsam war Mathias Bertram bei der Auswahl von Fotos, die die zunehmende Militarisierung des Alltags in der DDR zeigen. In gewisser Weise stehen dafür Fotoaufnahmen von Christina Glanz zur vormilitärischen Ausbildung, von Gerhard Weber zur Vereidigung einer NVA-Einheit in Markkleeberg (Es überrascht tatsächlich, dass Mütter am Straßenrand dabei in Tränen ausbrechen konnten – aber sie hatten Recht damit und werden immer Recht damit haben). Oder Ulrichs Kneises Bilder von einem Gewaltmarsch in der NVA-Grundausbildung.

Und als wäre es Absicht, tauchen immer wieder – wie auf dem Cover – Menschen auf im Bild, die scheinbar mit aller Konzentration übers Meer schauen, als würden sie auf die Schiffe warten, die sie endlich zu den Paradiesen bringen. Man bekommt im Grunde den ganzen Gefühlskatalog komplett, der die späte DDR ausmachte und die Stimmung, die sich immer mehr verdichte. Die sogar in Thomas Sandbergs Foto des “Ausgezeichneten” deutlich wird, der mit seinen Orden an der Brust 1981 zufrieden im Palast der Republik sitzt und sich eine ganz dicke Zigarre angezündet hat.

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Das pure Leben
Mathias Bertram, Lehmstedt Verlag 2014, 24,90 Euro

Mathias Bertram hat zwar den unfertigen Torso des Marx-Engels-Denkmals von Ludwig Engelhardt (fotografiert von Sibylle Bergemann) ans Ende des zweiten Bandes gesetzt. Quasi als Korrespondenz zum Lessing-Denkmal im zerstörten Berlin von 1945 im ersten Band. Aber emotional ist das Bild davor der eigentliche Endpunkt der Geschichte, die über die späten Jahre der DDR erzählt werden kann: Evelyn Richters Bild eines umschlungenen Paares in der Silvesternacht 1989/1990 am Brandenburger Tor, beide sichtlich sehr nachdenklich. Trauer kann man in die Mienen hineinlesen, Hoffnung, dass jetzt alles gut wird, oder auch Besorgnis, ob es denn nun gut wird.

Ganz sicher wird es auch mal einen Fotoband über die nächsten 15 Jahre geben. Dann steht zwar nicht mehr DDR drüber, aber die emotionalen Achterbahnfahrten der Menschen werden ganz ähnlich aussehen – genauso wie ihre immer neuen Versuche, unter den gegebenen Verhältnissen ein Leben zu leben, das sie als richtig für sich empfinden können. Andere können das sowieso nicht entscheiden für einen. Aber sie versuchen es immer wieder und mit gnadenloser Arroganz. Und das gilt eben nicht nur für die Spätzeit der DDR. Das gilt für alle Zeiten.

Nur dass man das Scheitern der DDR in diesen beiden Bänden bis zum Ende nacherzählt sieht. Aus der meist warmherzigen Perspektive von Fotografinnen und Fotografen, die dem, was sie auf Schwarz-Weiß-Film bannten, Achtung und Wertschätzung entgegenbrachten. Die Fotografierten sind keine Objekte eines gierigen Voyeurismus, sondern Helden ihrer eigenen Geschichte, eines großen Romans, der zwar DDR hieß, aber da draußen, im puren Leben, mehr Leidenschaften bot, als je zu Ende erzählt werden könnten.

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