Was die anderen Tonbandmitschnitte in "Redefreiheit" betrifft, wurden diese dann nach dem legendären 9. Oktober schon offiziell angefertigt. Im Gewandhaus zum Beispiel ganz explizit mit der Absicht, das Gesagte hieb und stichfest festzuhalten, aber auch die Gesprächspartner beim Wort zu nehmen. Der Glücksfall ist, dass neben den legendären Gewandhaus-Gesprächen auch die ersten Debatten "Politischer Frühschoppen" ab dem 15. Oktober in der Moritzbastei und die Debatten im Academixer-Keller, die am 14. Oktober begannen, aufgezeichnet wurden.

Die Gewandhaus-Dialoge starteten am 22. Oktober. Und es sind ganz unübersehbar weltliche Orte, an denen diese ersten öffentlichen Foren stattfanden, nicht mehr die Kirchen, die bis zum 9. Oktober als Schutzraum gedient hatten. Der politische Dialog, den die herrschende Partei 40 Jahre lang verweigert hatte, kehrte in die Öffentlichkeit zurück. Und zwar erstaunlich schnell. Auch das gehört zum Verblüffenden in diesem Herbst 1989.

Und während die Führung der SED noch in zähen Machtkämpfen verstrickt war (die schlichtweg auch zu dieser Herbstgeschichte gehören) und die meisten SED-Funktionären schlichtweg handlungs- und dialogunfähig waren, nutzten die Organisatoren der Gespräche in Moritzbastei, Academixer-Keller und Gewandhaus die Chance, die gesprächsbereiten Amtsinhaber einzuladen und sie und sich selbst dem Gespräch mit einem aufgeregten und sichtlich engagierten Publikum zu stellen. Dabei kamen durchaus unterschiedliche Funktionärs-Typen zu Wort – von den gesprächs- und reformwilligen bis zu denen, die nicht einmal zu begreifen schienen, dass ihr ignorantes Kauderwelsch von niemandem mehr akzeptiert wurde.

Und da die Gespräche mitten in diesem sich geradezu überstürzenden Herbst stattfanden, spiegelt sich die Beschleunigung der Ereignisse natürlich auch in den Gesprächen wieder. Die Gewandhaus-Gespräche starteten zwar – aufgrund eines Auslands-Gastspiels des Gewandhausorchesters – später als die anderen, haben aber eine wichtige Rolle, denn hier stellten sich die “Leipziger Sechs” zur Diskussion und übernahmen auch die Verantwortung für alles, was in den Dialogen gesagt und versprochen wurde. Das hatte Gewicht, auch wenn den drei SED-Funktionären – wäre der 9. Oktober und der Machtkampf in Berlin anders ausgegangen, als Mindestes die Absetzung und ein deftiges Parteiverfahren gedroht hätten. Das Ausscheren reformwilliger SED-Funktionäre gehört zu den wichtigen und notwendigen Verschiebungen in diesem Herbst.

Ahbes “Einführung” im Buch macht diese sich gegenseitig bedingenden Vorgänge sichtbar. Und Ahbe zeigt auch recht deutlich, dass der Druck der Straße auch den reformbereiten Funktionären Rückendeckung gab und die SED geradezu zur Schnellreform zwang. Wenn auch den Hunderttausenden auf der Straße nicht schnell genug. Denn ein Problem hatten die aufmüpfigen Bürger nicht: Erst ihre Sprache finden zu müssen.

Am Ende des Buches befindet sich noch ein gesonderter Essay von Thomas Ahbe und Michael Hofmann, der sich einmal mit dem Sprachstil der Zeit – dem der Funktionäre und dem der Bürger beschäftigt. Etwas, was viel zu selten passiert. Denn Macht bildet auch immer ihre unverkennbaren Verhaltensweisen und Sprachhaltungen aus. Selbst in den hier aufgezeichneten Gesprächen ist noch die alte, stalinsche Funktionärstribüne erkennbar: oben die Machthaber, unten das demütige Parteivolk. Nur dass dieses Volk hier nicht mehr demütig war (bzw. den manchmal mühsamen Gang zu einer klaren, nicht mehr untertänigen Sprache suchte und fand), und dass die Mächtigen oben im Präsidium sich nicht mehr verweigerten. Bis auf einige wenige wie den damaligen LVZ-Chefredakteur Rudi Röhrer, der nicht einmal begriff, warum die Leute seinen sofortigen Rücktritt forderten. Sein Sprachstil ist geradezu typisch für die arrogante Sprachverweigerung, in der sich die SED-Führungskaste seit über zehn Jahren eingeigelt hatte.

Diese Zeitspanne von zehn Jahren kommt in einigen der Wortmeldungen zur Sprache. Faktisch hatte das Land ja 40 Jahre echte Dialogverweigerung hinter sich. Aber subjektiv fühlten sich die Leipziger seit zehn Jahren regelrecht düpiert von dieser Machtarroganz der Verweigerung. Und das betraf nicht nur alle “einfachen” Bürger, die sich mutig zu Wort meldeten, sondern auch viele bekennende SED-Mitglieder, die hier erstmals öffentlich äußerten, dass der Funktionärsapparat mit ihnen nicht anders umging als mit allen anderen.

Und während die ersten Dialoge noch die Aufarbeitung der Ereignisse und der erlebten Defizite zum Thema haben, beginnt schon nach wenigen Tagen das Formulieren von Forderungen und programmatischer Veränderungen. Es war ja nicht so, dass die Bürger keinen Vorlauf hatten oder nur die Basisgruppen aus der Nikolaikirche um die Defizite des Landes wussten. Das zeigen die vielen klaren Wortmeldungen der Mitglieder des – noch verbotenen – Neuen Forums, aber auch die erstaunlich detaillierten Analysen der ins Podium geladenen Experten – ob das nun Rechtsanwälte und Richter waren, Architekten und Stadtplaner oder Ärzte.

Die Gespräche sind – mit 25 Jahren Abstand gelesen – eine erstaunlich genaue Analyse der oft genug katastrophalen Zustände im Gesundheitswesen, in der Stadtsubstanz, in den Betrieben, in der Rechtspraxis, von denen die Betroffenen unüberhörbar die Nase voll hatten. Schon das Lesen der einzelnen Redebeiträge macht eigentlich klar, dass dieses Land über kurz oder lang von allein implodiert wäre. Und damit wäre man eigentlich beim Begriff Revolution, der so gern verwendet wird, und der dem Ganzen nicht im Mindesten gerecht wird. Eigentlich wäre es sogar angebracht, von einer faszinierenden Rettungsaktion zu sprechen, denn die Führungsmannschaft, die den Kahn so sichtlich in den Dreck gefahren hatte, war nicht mehr handlungsfähig. Die Bürger mussten übernehmen – und sie übernahmen auch.

Die alte Regierung hätte nicht einmal mehr Handlungsoptionen gehabt, wenn sie – wie noch am 7. Oktober – wieder zur Gewalt gegriffen hätte. Das zeigen die Aussagen der Kampfgruppenmitglieder und Bereitschaftspolizisten, die sich zu Wort meldeten: Sie wollten das Spiel nicht mehr mitspielen, weil, sie bei jedem Einsatz mitkriegten, dass die ihnen gegenüber Stehenden genau das waren, was sie ihnen auch zuriefen: “Wir sind das Volk.”

Besonders die November-Gespräche im Gewandhaus sind dann schon stark geprägt von klaren Reformforderungen, die dann auch in den “Leipziger Postulaten” direkt an die neue Übergangsregierung gerichtet waren, obwohl einige Forderungen zu diesem Zeitpunkt schon erfüllt waren: die Grenzen waren am 9. November geöffnet worden und die Aufgabe der neuen Modrow-Regierung war im Wesentlichen, die ersten wirklich freien Wahlen in der DDR vorzubereiten.

Manch Nachgeborener wird vielleicht darüber stolpern, dass noch im November ganz ernsthaft um eine Neugestaltung des Sozialismus in der DDR gerungen wurde, sogar von Leuten, die all das, was seit 40 Jahren praktiziert wurde, für alles Mögliche erklärten, nur nicht für Sozialismus. Am 19. November wurde zum Beispiel im Academixer-Keller erstmals öffentlich und gründlich über das Thema Stalinismus debattiert. Sehr klug und intellektuell in vielen Beiträgen, in denen sich auch viele Leipziger Gesellschaftswissenschaftler zu Wort meldeten und über die Denk- und Veröffentlichungsverbote selbst in der Wissenschaft sprachen. Das Thema Stalinismus war ja nicht erst seit dem Sputnik-Verbot 1988 tabu, man hatte es schon gleich nach 1956 aus allen Lehrbüchern getilgt – und sich damit eine Auseinandersetzung über die eigene Regierungspraxis erspart.

Im Grunde also eine spät nachgeholte notwendige Diskussion, die mit der am 29. Oktober im Gewandhaus geführten Debatte “Sozialistische Demokratie – aber wie?” zusammengehört. Auch das eine in der DDR praktisch verbotene Diskussion, was ebenfalls in vielen Beiträgen deutlich wird, denn jeder Abweichler vom harten Kurs des Politbüros, des engen Führungszirkels der SED, wurde kriminalisiert und zumeist auch drangsaliert und eingesperrt  oder ausgewiesen – exemplarisch fallen die Namen Harich, Janka, Loest, Bloch, Mayer, Bahro, aber auch die Ausgrenzung Biermanns und von Manfred Krug werden angesprochen. Die Leipziger wussten sehr genau, was alles schon in ihrer jüngst zurückliegenden Stadtgeschichte passiert war und wie diverse Hardliner mit ihrer Stadt, mit dem Land, mit Wirtschaft und Meinungsfreiheit umgegangen waren. Das mussten dann auch jene Funktionäre erfahren, die noch immer glaubten, sie könnten sich den Dialogen mit der selben Herablassung stellen, wie sie es auf allen zurückliegenden Partei-Jubelfeiern immer getan hatten.

Das Buch und die (soweit möglich) vollständig dargebotenen Gespräche zeigen im Grunde die ganze emotionale und inhaltliche Auseinandersetzung der entscheidenden Wochen im Herbst 1989. Hier artikulieren sich die Leipziger erstmals klar und deutlich – auch als mündige und selbstbewusste Bürger, die sich von ignoranten Funktionären nichts mehr sagen lassen wollten. Auch wenn Kurt Masur in den späteren Gewandhausgesprächen schon mehrfach mahnen muss, dass die Zeit der Klagen erst mal vorbei ist und die Betroffenen die Dinge selbst in die Hand nehmen müssen, denn jetzt verbiete ihnen das niemand mehr.

Die Gesprächsaufzeichnungen machen auch die wichtige Rolle der Moderatoren sichtbar – allen voran die Leipziger Sechs und die Academixer, die der Leipziger Stadtgesellschaft zu einem Forum verhalfen, das sie vorher nicht gehabt hat. Und gerade in den letzten Gesprächen im November wird schon deutlich, wie viel von dem schon vorgezeichnet war, was dann nach den Wahlen 1990 in Leipzig begann, Früchte zu tragen – von der neuen Parteienlandschaft bis zur Rettung der Stadt. Die Arbeit von Ahbe, Hofmann und Stiehler hat sich mehrfach gelohnt. Und das dicke Buch mit den faszinierenden Gesprächen ist mehr als nur eine Sonde mitten in diese Zeit hinein. Es ist auch ein gewichtiges Gegenstück zur um sich greifenden Verklärung dieses Oktobers 1989.

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