Hinter Leipzig gibt es auch noch Leben. Görlitz, Oberlungwitz, Berlin, Unterwellenborn. Dichter reisen gern. Zum Glück. Sonst gebe es wirklich nur die skandalösen Meldungen der Nachrichtenagenturen. Und kein Bild vom Sein und Bleiben da draußen in einer Welt, die immer erst nachrichtentauglich wird, wenn Häuser brennen oder seltsame Provinzbewohner den Aufstand proben. Geht es um Provinz?

Mehr oder weniger. Indirekt, so, wie Dichter sich immer mit dem beschäftigen, was sie sehen und vorfinden. Sie müssen ja keine Lösungen anbieten, keine Probleme anprangern. Wirklich nicht. Deswegen spricht der Literaturwissenschaftler Norbert Schaffeld im Nachwort zu diesem neuesten Grüneberger-Gedichtband auch eher vorsichtig-theoretisch vom „(Sozial)Politischen“, das man  aus Grünebergers Gedichten seit 30 Jahren gut kenne. Und liegt daneben. Auch wenn Ralph Grüneberger geradezu berühmt ist für seine Gedichte über das Arbeitsleben und das Leben der Arbeitenden. Denn er gehört ja zu diesen richtigen Ostgewächsen der Dichtung, die das ewige Gerede von der „Feier der Arbeit“ und dem Ruhmgesang auf die Schaffenden ernst genommen haben. Wer so etwas ernst nimmt, wird ganz selbstverständlich zum Schwejk. In diesem Fall einem sehr einfühlsamen. Er macht sich nicht lustig über das, was er sieht, sondern er fühlt mit.

Deswegen wurden seine großen Gedichte auf die müden, abgearbeiteten, lebenshungrigen und vom Leben gebeutelten Menschen aus den Fabriken, Kantinen und Arbeitervierteln des Ostens auch nie eine Hymne, eher (eine ganz stille Verwandtschaft zu Neruda) ein Lobgesang auf das Leben. So, wie es ist. Wie es immer weitergeht, egal, wer gerade regiert, schwadroniert und dirigiert. Denn selbst in den verrußten Vorstadtstraßen Leipzigs (in denen er aufgewachsen ist und die er bis heute besingt) ging es immer nur um das eine: um Werden und Vergehen, Träume vom richtigen Leben, von Verlässlichkeit und machbarer Zukunft.

Und wer das alles liest, der sieht auch bei Grüneberger (ganz ähnlich wie beim Leipziger Dichter-Kollegen Thomas Böhme) die Kontinuität. Dichter sind rücksichtslose Burschen, das muss mal gesagt sein. Sie nehmen die ganzen „historischen Ereignisse“, die Fahnenschwenkereien, Ordensverleihungen und die ganze Regelungswut der amtlich gewählten Bürokraten nicht ernst. Sie blinzeln beim Schauen. Und sehen hinter der starren Maske den Menschen – von seiner Rolle völlig überfordert. Die Überforderung der Großmäuligen in all ihrer Oberflächlichkeit. Dichter nehmen diese eher mit Entsetzen wahr. Weil sie zu etwas führt, was mit Aufmerksamkeit und lebendigem Dasein nichts mehr zu tun hat – dem Eigentlichen.

„Luther erlebbar“ heißt so ein Gedicht von Grüneberger, in dem er fast genüsslich auf heutigen Luther-Wegen spaziert und auf das zu sprechen kommt, was die PR-Experten nicht wissen und deshalb auch nicht miterzählen. „Der Häuer-Sohn nimmt / Das Herrschaftswissen auseinander / Subversiv dann die beweglichen / Lettern führen zu beweglichem Geist“.

Wer weiß das schon, wenn er sich in die Anspruchslosigkeit heutiger Häppchen-Medien stürzt? Nicht nur die Dichter leiden, wenn Menschen nicht mehr lesen. Und auch die Kompetenz verlieren zu lesen. „Dabei ist so vieles wie früher: / Die Wölfe haben Nachwuchs / wie die Vorurteile …“

Was ja nicht neu ist: Wer die Gehirne besitzt und füllt mit den Parolen des Tages, der kann Menschen dazu bringen, alles zu tun. So wie 1914, wo ein paar Wochen genügten, um ein Land in einen rasenden Kriegstaumel zu versetzen. Daran denkt ein Dichter wie Grüneberger, wenn er ausgerechnet durch Marburg spaziert: „Marburg 2013“. Es sind ja alles Gedichte aus jüngerer Zeit, eine Zwischenbilanz für den 65-Jährigen, der wohl in seiner Verblüffung immer 35 bleiben wird, verwundert, verwirrt beim Anblick dessen, was er sieht, was Menschen mit sich tun und anstellen lassen. In Marburg, mit einem Fuß schon in der Welt der Brüder Grimm, denkt er an Hölderlins „Hyperion“ und die billigen Reclam-Bändchen in den Tornistern der fröhlich in den Krieg Gezogenen.

So verwandelten sich junge Aufgestachelte in Fundstücke für Archäologen. So wie auch einen Krieg später, der dann bei Oberlungwitz aus dem Feld gegraben wird: „Oberlungwitz nach 70 Jahren“. Fast parallel werden Hitlers „Mein Kampf“ versteigert und das Tor des KZ Sachsenhausen gestohlen. Geschichte spielt immer wieder hinein in seine Gedichte. Als menschliche Geschichten, als Versuch, in komplizierten Verhältnissen das Richtige zu tun. Oder nur einfach das Notwendige. Die Betten zu schütteln, bevor die neuen Gäste kommen. Die Ernte einzufahren. Zu lieben und sich zu vermehren (deswegen dominieren in den etwas sehr expressiven Bildern von Karl Opperman in diesem Buch wohl auch die Anspielungen).

Dem Land und seinen Leuten begegnet er – oft bei Lesungen im Land. Das gibt es tatsächlich noch. Und dann bringt er diese große Begeisterung mit für pralle Erdäpfel und glänzende Baumäpfel und wogende Mais- und Sonnenblumenfelder. Man merkt, wie er das einsaugt und versucht, es fest zu verstauen im Kopf, bevor er wieder zurückfährt in die große Stadt. Oder anderswohin. Seine Gedichte ergeben eine Topografie der Reisen: In Prag will er die Spuren jüdischer Vergangenheit finden und sucht nach Dr. Frantisek Kafka (findet ihn aber in Linz), in Berlin versucht er, den schlitzohrigen und wankelmütigen Brecht zu verstehen, den er bewundert – und ihm die parteiliche Untertänigkeit ankreidet. In Weimar begegnet er Frau von Stein und hat so ein Déja vu: War nicht auch der Herr Hofrat nur ein Angestellter des Fürsten? Hängt der Verdienst des Dichters am Ende nicht von seinen Verdiensten für die Fürsten ab?

Da hat er aber was gesagt. Dafür hätten sie ihn vor 30 Jahren aber gerügt. Da nahmen auch die Fürsten noch ernst, was geschrieben wurde von ihren Künstlern, von den unbeauftragten noch viel mehr als von den beauftragten. Heute? Bezahlt man mit Applaus und meidet den Büchertisch am Ausgang. So wie in Weltewitz („Dichterlesung in Weltewitz“). Was auch diesen Dichter, der so genau hinschaut, auf moderne Abwege führt, denn wenn immer weniger Menschen überhaupt noch Gedichte lesen, aber die großen Steuerer des Landes immerfort die Preise erhöhen fürs pure Leben, was bleibt da noch als die Forderung: „Passt die Lyrik dem Goldpreis an!“ („Gedichte müssen einfach teurer werden“)

Und da hat er sich selbst missverstanden aus lauter Frust über eine Welt, in der das Lesen von Texten länger als 140 Zeichen geradezu verpönt scheint, lächerlich, überholt. Die Folgen sind fatal, Dichter wissen das. Denn so gehen die Gesprächspartner verloren, Menschen, die noch offen und fähig sind zum Gespräch. Ohne Gespräch keine Gemeinschaft. Man kann sich ja nicht immer nur mit den Kolleginnen und Kollegen Dichtern im Regal unterhalten. Was Grüneberger rege tut, weil er sich mit ihnen übers Leben unterhält. Oder einfach sagt, dass einer nun fehlt. Einer wie Loest zum Beispiel, dessen Nachlass versteigert wird. Oder „Großdichter“ Mickel, der noch reden konnte über Gedichte, „ohne Schaden anzurichten“.

So gesehen also auch eine Kiepe Abschied in einem Buch, das Grüneberger herausfordernd mit „Die Saison ist eröffnet“ betitelt hat. Erntesaison, wenn man die ersten Gedichte liest mit den versonnen-optimistischen Gedichten aus der sächsischen Provinz, fetter Frühling, wenn man die Ausklanggedichte liest. Der Walnussbaum sucht einen Zweiten, wozu wohl? Und ein altes Foto zeigt Längstvergangenes und Immerneues in einem: „Die Straße, abschüssig wie das Leben. / Ihr Haus, das älter ist als sie / / Zieht Wasser, wie der Baum / / Der alles überblüht.“

Norbert Schaffeld versucht, diese Arbeitsweise im Nachwort auf die ganz theoretische Ebene zu ziehen. Dabei geht es doch immer nur um das genaue Sehen, das Wahrnehmen von Liebe, Angst und Not. So kommt das „(Sozial)Politische“ von ganz allein herein, wenn Grüneberger von Turnhallen, Heilstätten und einer alten Dorfgaststätte in Crawinkel erzählt. So ergibt das eine aufmerksame Feier des Lebens, wo Europas Provinzen in immer längeren Regenzeiten versinken. Selbst da wachsen am „Wegrand Mohn und Melde / Grasnelken, Wildhafer, frisches Nesselgrün“. Die Saison ist längst eröffnet. Wer nicht hinguckt, merkt nichts davon.

Ralph Grüneberger Die Saison ist eröffnet, Dr. Ziethen Verlag, Oschersleben 2016, 14,99 Euro.

Mehr von Ralph Grüneberger:

Die 30 plus x Spiel-Arten der Poesie oder Warum man Gedichte einfach nicht in eine Schublade kriegt

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