Wenn Dieter Bellmann im Zusammenspiel mit Liane Steinbrecher in diesem auch für den Lehmstedt Verlag eher ungewöhnlichen Buch etwas gelingt, dann ist es, zu zeigen, was für ein reiches und letztlich unübersehbar buntes Land Sachsen eigentlich ist. Es fällt kein einziges politisches Wort im ganzen Buch. Die beiden sind einfach nur unterwegs, wie sie es schon 2005 bis 2015 für den MDR waren.

Da haben sie eine am Ende 700 Folgen lange Städterätselreihe „Mittagskurier“ für „MDR um Elf“ produziert, sind mit ihrem Mini-Team durch Mitteldeutschland gefahren und haben kleine Orte mit ihren Einmaligkeiten vorgestellt und Einmaligkeiten in den größeren Städten, die man eigentlich kennt. Oder zu kennen glaubt. Alles im lässigen MDR-Stil. Was den kritischen Leser natürlich verstören könnte. Denn im MDR ist die Welt immer heil, die Menschen sind freundlich (ja, auch die Sachsen), die Dörfer und Städte sind heimelig und eindrucksvoll saniert, die Landschaft ist atemberaubend (ist sie tatsächlich) und was man so findet, ist mal skurril, mal süffig, aber immer irgendwie liebenswert beeindruckend.

Mit ein, zwei Jahren hatte der Leipziger Schauspieler Dieter Bellmann gerechnet, den die Sachsen seit 1998 vor allem als Professor Simoni aus der Fernsehserie „In aller Freundschaft“ kennen, dass er die Reihe moderieren würde. Dann wurden es doch zehn Jahre, in denen das vierköpfige Team versuchte, allerenden das Besondere an dieser Landschaft zu finden. Stoff für mehrere solcher Bände, wie Bellman andeutet. Oder ist es Liane Steinbrecher? So wie sie für die einzelnen „Mittagskurier“-Sendungen die Skripte erstellt hat, hat sie auch in diesem Buch quasi den schriftlichen Part für Dieter Bellman übernommen.

27 ihrer Reiseziele haben sie ausgewählt – von Annaberg-Buchholz (wo man Adam Ries begegnen kann) bis Zwickau, wo man die wichtigste Erinnerungsstätte an Robert (und Clara) Schumann findet. Was natürlich den Leipziger aufmerken lässt: Hat sich denn die Messebuchstadt an der Pleiße nicht mit großem Hintern auf alle sächsischen Musikerthemen gesetzt? Manchmal wirkt Leipzigs Selbstvermarktung ja so wie ein großes Ramschen. Aktuell wird wieder versucht, Wagner als Zugpferd zu inszenieren. Obwohl das in Graupa längst viel besser gelungen ist. Genauso locker und spielerisch, wie das Leipzig wohl nie gelingen wird. Selbst die Versuche, Wagner künstlich mit seiner Geburtsstadt auszusöhnen, sind seit 100 Jahren immer wieder gescheitert.

Deswegen ist Bellmanns Tipp für Leipzig auch nicht der übliche Musik-Parcours, sondern eine Runde durch seine Lieblingskaffeehäuser: Leipzig als Stadt der Kaffeehauskultur. Obwohl: Leipzig ist nicht wirklich die spannendste Perle in dieser Auswahl. Viel spannender ist, wie Bellmann und Begleiter die kleinen Städte im Land erschließen, die namhaften, die jeder besucht, der wirklich sächsische Stadtschönheiten erkunden möchte – wie Görlitz („Görliwood“), Seiffen („Weihnachtsland“), Stolpen (Gräfin Cosel) oder Pirna mit dem Canaletto-Blick. Womit man schon in jener Elblandschaft wäre, die mit Schmilka und Struppen für jenes romantische Sachsen steht, das in keiner Eigenwerbung des Freistaats („So geht sächsisch“) fehlen darf. Malerisch samt Malerweg.

Gerade weil die besuchten Orte alphabetisch sortiert sind, wird die Abfolge ein emsiges Springen hin und her – vom Elbsandsteingebirge ins Vogtland, vom Burgen- und Heideland, ins Erzgebirge, in die Lausitz … Auf einmal wird dieses Ländchen, das in den modernen Lobgesängen immer nur als einheitliches Ganzes, als schwarz eloxiertes Königreich gefeiert wird, zu einem bunten Teppich unterschiedlicher Landschaften und – ja, das ist jetzt für die eingeborenen Michel – Kulturen.

Das kann schon mal kritisch werden, wenn man, wie es dem tapferen Kameramann im „Suppenland“ Neudorf geschieht, die Gegend etwas zu laut niedlich nennt. Das kann schon mal grimmige Blicke auslösen. Denn die Einwohner sind meistens natürlich stolz auf ihre hübschen kleinen Orte, durch die oft genug auch noch eine tapfer gerettete Schmalspurbahn dampft. Von der Staatsregierung emsig gepäppelt. Es liegt ja nicht an den Leuten, dass Vieles so hübsch museal wirkt. Es ist auch Teil der sächsischen Selbstinszenierung. Was unübersehbar auch eine Flucht in die Vergangenheiten ist. Mehrzahl bitte. Denn die Trauer ist überall eine andere: Die einen trauern dem Bergbau hinterher, die nächsten dem Automobilbau oder der Textilindustrie, wieder andere dem Stuhlbau oder der Zigarrenindustrie. Andere versuchen, ihre Identität als Puppenspiel-Stadt, als Musikwinkel oder als Kunstblumen-Stadt zu bewahren (Hohnstein, Markneukirchen, Sebnitz). Und schaffen das auch. Vergangenheit ist eben nicht überall vergangen, sondern wird – oft genug von engagierten Einheimischen – liebevoll bewahrt. Alte Handwerkskunst trifft sich mit touristischer Vermarktung. Wer in Sachsen auf Achse ist, der macht Entdeckungen. Wer dabei aufmerksam ist, sieht aber auch, wie wenig das tatsächlich in eine große, platte Generalgeschichte zusammenfließt.

Nicht mal die Helden teilen sich alle – wo die einen sich mit Stolz an die Roten Bergsteiger erinnern, die anderen an Max Jacob oder gar Schiller (Kahnsdorf im Leipziger Neuseenland), da erinnern sich die anderen stolz an den Stülpner-Karl (Großolbersdorf), über den man natürlich stolpert, jetzt, da sein berühmtester Filmdarsteller gestorben ist: Manne Krug.

Man wundert sich eher, warum überhaupt jemand versucht, diesem Bundesland eine Einheitsgeschichte erfinden zu wollen, die niemandem wirklich passen kann. Nicht mal, was die Dialekte betrifft, auch wenn sich der unermüdliche Tom Pauls in Pirna so tapfer bemüht, die sächsische Mundart zu retten. Aber welche nur? Wobei Bellmann seinen Schauspielerkollegen auch deshalb besucht, weil er das zu neuem Theaterleben erweckte Peter-Ulrich-Haus vorstellen möchte. Die einzelnen Reiseskizzen sind da und dort gespickt mit Bellmanns Erinnerungen an seine eigene Schauspielerkarriere, aber auch an seine reisefreudige Kindheit. Es gibt kaum einen Ort, wie es scheint, wo er nicht als Kind durch die Straßen tobte oder eine wichtige Station in seiner Theaterlaufbahn hatte oder auf Leute trifft, die ihn freudestrahlend als Prof. Simoni anreden. An den Bockwurstständen entlang der Autobahnen muss er bekannt sein wie ein bunter Hund, denn jeden Drehtag hat das eingeschworene „Mittagskurier“-Team mit einem Bockwurstfrühstück begonnen, denn zumeist musste man ja „kurz nach Mitternacht“ von Leipzig weg, um sich irgendwo im tiefen Inneren des Landes eine neue Perle anzuschauen – manchmal in Regen und Gewitter, manchmal in dichtem Schneetreiben.

Das Ergebnis ist ein kleines Reisebuch geworden, das tatsächlich 27 unterschiedliche Facetten dieses Bundeslandes zeigt, dessen Bürger im Fernsehen immer als so freundlich und aufgeschlossen erscheinen, in den Nachrichten aber derzeit ziemlich wütend. So wütend, dass tatsächlich ein paar Bewohner westlicherer Länder so langsam anfangen, die Frage zu stellen: Warum ist das so?

Unter anderem ist es natürlich so, weil auch der heimische Sender nicht wirklich ernst genommen hat, was in diesen kleinen 8-Minuten-Beiträgen für den „Mittagskurier“ und in diesem Buch sichtbar wurde und wird: Wie vielfältig dieses Land eigentlich ist und dass man es mit zentralen Steuerungs- und Kürzungsprogrammen nur kaputtspielt. Was der freundlichen Landesregierung ja bekanntlich auch vielerorts geglückt ist. Und der Einheits-Brei-Fröhliche-Laune-Sender hat es einfach nicht hinbekommen, diese Konfliktlagen auch zu zeigen.

Das ist nun einmal nicht der Job der L-IZ, sondern der des MDR, der sich gern als großer trimedialer Allesbespaßer inszeniert, den kritischen Blick für die regionalen Konflikte aber nie entwickelt hat. Da war immer alles schön und „sächsisch“.

Ist es auch: aber nur im Detail. Das sich verliert in der großen bunten Einheitssoße. So gesehen: Ein sehr liebenswertes und charmantes Buch, das einmal zeigt, was immer wieder weggewischt wird, wenn die große sächsische Bierreklame läuft.

Dieter Bellmann; Liane Steinbrecher Unterwegs in Sachsen, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2016, 19,90 Euro.

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