Egal, wohin man in Deutschland reist, man trifft auf Geschichte. Richtig lange Geschichte. Und gerade jetzt, wo der Massentourismus mit Fliegern und Ferienressorts so ins Zwielicht geraten ist, dürfte sich mancher eher wie Kurt Tucholsky fühlen im Jahre 1912: Um der großen Stadt zu entfliehen, setzt man sich einfach mit Claire in den Zug und fährt vielleicht nicht nach Rheinsberg (was man ja später nachholen kann), sondern beispielsweise nach Nördlingen. Natürlich mit kleinem Stadtführer in der Tasche.

Denn natürlich ist jedes dieser kleinen deutschen Städtchen ein Schatzkästchen, von den Bewohnern liebevoll gepflegt, besonders liebevoll, wenn die Stadt noch in ihren alten Strukturen intakt ist und die historische Häuserversammlung noch die mittelalterlichen Strukturen bewahrt hat. Was ja nicht jede deutsche Stadt von sich sagen kann.

Aber Nördlingen gehört zu den verschonten deutschen Städtchen, in denen nicht nur die Pracht der Renaissance-Bebauung erhalten ist, sondern auch noch die ganze runde Stadtmauer mitsamt Toren und Türmen. Weshalb man in Nördlingen etwas machen kann, was sonst kaum noch irgendwo in Deutschland möglich ist: Auf dem Wehrgang die ganze Stadt umrunden.

Und dabei kann man so rundum eintauchen in das Gefühl einer wehrhaften alten kleinen Reichsstadt, wie es sich viele Geschichtslehrer nur wünschen. Geschichte begreift man nun einmal am besten, wenn sie noch (halbwegs) authentisch erlebbar ist.

Und in dem Rundgang, den Franziska Reif hier zusammengestellt hat, nimmt der Stadtmauerrundgang im Grunde einen ganzen eigenen Abschnitt ein, auf dem man nicht nur das Stadtmauermuseum im Löpsinger Tor kennenlernt, sondern auch die Geschichte des Mauerwerks, das seine größte Belastungsprobe im Dreißigjährigen Krieg auszuhalten hatte, als hier die Schlacht bei Nördlingen stattfand und Nördlingen der Belagerung tatsächlich zwei Wochen standhielt.

Das war im Zeitalter der Kanonen schon ein ordentlicher Wert. Sogar eine der damaligen Bastionen hat die Zeit überdauert. Aber besonders eindrucksvoll sind eigentlich die Kasarmen: Kleine Häuser mit geradezu winzigen Grundrissen, die von innen direkt an die Stadtmauer gebaut waren und in denen vor allem die Stadtarmen und die Torwächter wohnten, in Kriegszeiten die Soldaten. Aber sie sind heute immer noch beliebt, quasi die Tiny Houses des Mittelalters: Genug Platz zum Wohnen, da und dort sogar ein kleines Gärtchen. Eine echte Alternative für Menschen, die sich gar nicht mit großem Besitz und großen Nebenkosten belasten wollen.

Da und dort wird der alte Stadtgraben auch anders genutzt – etwa mit einem Rosarium. Und zwei Türme haben die besondere Aufgabe, das Hineinfließen und Herausfließen der Eger zu überwachen, denn immer waren das einst die sensibelsten Stellen in der Stadtmauer. Die Eger prägt die alte Stadt bis heute, auch wenn die alten Mühlen nicht mehr genutzt werden. Dafür sind die Häuser der Gerber heute Zeugnisse eines Gewerbes, das in Nördlingen einst neben der Lodweberei zu den tragenden Gewerben gehörte. Und sie sind beliebte Wohnstandorte mit ihren luftigen Trockenböden und der direkten Nähe zur Eger.

Aber bevor man das alles sieht, führt einen Franziska Reif natürlich noch in die Geschichte des Suevits ein, der an repräsentativen Gebäuden der Stadt verbaut wurde und direkt aus dem Nördlinger Ries stammt, in dessen Mitte Nördlingen ja liegt. Und hier springt der Geografielehrer auf, weil das sein Gebiet betrifft: Der 14,6 Millionen Jahre alte Meteoritenkrater ist der größte und eindrucksvollste seiner Art auf dem Gebiet Deutschlands. Das RiesKraterMuseum sollte man auf seinem Rundgang ganz bestimmt nicht auslassen.

Hier erlebt man sehr anschaulich, dass 1.000 oder 2.000 Jahre menschliche Siedlungsgeschichte im großen planetaren Zusammenhang eher ein Witz sind, ein Wimpernschlag, verglichen mit geologischen Prozessen, die übrigens allesamt weiterlaufen, während Menschen in rasender Hektik so tun, als seien ihr kleines Tagesgeschäft und ihre hektische Politik irgendwie wichtig im Angesicht solcher Zeiträume.

Vielleicht geht man ja etwas langsamer, vorsichtiger und aufmerksamer nach dem Besuch dieser Ausstellung, in der man auch einem gewissen Eugene Shoemaker begegnet, dessen Namen einer der bekanntesten Kometen trägt. Er hat hier im Nördlinger Ries erkundet, was so ein Asteroid mit 1 Kilometer Durchmesser anrichtet, wenn er mit 70.000 km/h auf die Erde prallt.

Natürlich hat Nördlingen auch all die anderen hübsch sanierten Zutaten, die man in einer mittelalterlichen Stadt erwartet – vom Rathaus (einem der ältesten in Deutschland) über das Heilig-Geist-Spital und das Münzhaus bis hin zum Brot- und Tanzhaus und dem Hohen Haus, einem Wohnturm, der als das erstes Hochhaus des Mittelalters gilt. Die Kirchen nicht zu vergessen. Bei St. Georg legt Franziska Reif unbedingt den Aufstieg auf den Turm nahe – bis zur Türmerwohnung hinauf, von wo aus man nicht nur die ganze runde Stadt mit ihrer mittelalterlichen Bebauung sieht, sondern auch das ganze runde Nördlinger Ries.

So wird Reisen erst entspannend. Man kommt mal raus aus dem geduckten Gang und wechselt die Perspektive und darf einfach mal alles schön finden, verweilen und schauen. Zwischendurch immer wieder zur jeweiligen Station im Stadtrundgang blättern, nachschauen, was man vielleicht wissen sollte zu dem Punkt, an dem man gerade steht.

Manchmal darf man auch ein bisschen erschrocken sein – etwa wenn am Maria-Holl-Brunnen die Geschichte der Hexenverfolgung thematisiert wird, die meist landläufig das Adjektiv „mittelalterlich“ bekommt. Aber die Hexenverfolgung ist ein Phänomen der Neuzeit, eines geradezu modernen Fanatismus, der Verschwörungen und Finstere Mächte vermutete – just in Menschen, die nicht ins orthodoxe Raster passten. Komisch, dass das einen so an sehr Gegenwärtiges erinnert.

Als wenn einige Menschen einfach nicht aushalten könnten, dass die Welt komplizierter ist als Schwarz/Weiß und Epidemien über uns kommen, ohne dass jemand dafür einen Hexentrank gebraut haben muss. Dass das menschliche Leben gefährdet ist und kurz und endlich. Und dass alle weißbäuchige Überheblichkeit daran nichts, gar nichts ändert.

Wir haben diese Gefährdung immer nur verdrängt. Und uns für halbe Götter gehalten. Man wird auf solchen Reisen doch immer ein wenig bescheidener. Und wenn es nur die Erkenntnis ist, die man mitbringt, dass anderswo auch Leute wohnen. Denen es genauso geht wie unsereinem.

Die Menschen sind zwar immerfort mobil – aber die meisten reisen nicht mehr wirklich, lassen sich auf das Fremde und Unbekannte nicht ein. So ein Ausflug in ein kleines Städtchen wie Nördlingen ist wie schwimmen üben. Man lernt es wieder, ein bisschen mutiger zu sein beim Wegfahren, ohne sich wieder in einem All-inclusive-Paket eines Reisekonzerns zu verstecken vor der Welt.

Auf nach Nördlingen, das übrigens gerade deshalb Mitglied im internationalen Städtenetzwerk Cittaslow ist, dessen Wappen die Schnecke ist, weil man dort gemerkt hat, dass man im geruhsamen Gang auch in die Zukunft kommt.

Franziska Reif Nördlingen an einem Tag, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2020, 6 Euro.

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