Das eigentlich recht sonnige Jahr 2020 hat Steffi Böttger genutzt, um auch mal Freiburg im Breisgau zu besuchen und herauszufinden, ob es sich da lohnt, mal für einen Tag hinzufahren und sich die Stadt zu begucken oder ein Glas Wein zu trinken auf der Insel oder in der Wolfshöhle. So heißt zwar die Straße in der Nähe des Münsters nicht mehr, aber dafür ein Restaurant.

Und man kommt schon ins Stutzen: Warum hat eigentlich Leipzig nicht so eine schöne historisch verrufene Gasse? Denn das Barfußgässchen und die Gottschedstraße haben eine andere Geschichte, ohne Henker und verrufenes Volk. Manchmal sind es einfach die Bomben des Zweiten Weltkrieges, die die ungewollte Auswahl getroffen haben. In Leipzig haben sie gerade mit dem Naundörfchen den besten Kandidaten für so ein richtig schön verrufenes Viertelchen ausradiert.Während die Konviktstraße überlebt hat und fast alle repräsentativen Gebäude in Freiburg 1944 von der Royal Air Force zerstört wurden. So kann und muss Steffi Böttger zu fast jedem der markanten Gebäude, die sie auf diesem Rundgang vorstellt, auch die Zerstörungs- und Wiederaufbaugeschichte erzählen. Eine Geschichte, wie wir sie ja schon von vielen west- und süddeutschen Städten kennen.

Auch wenn es einige Städte im Westen gab, die ihr Stadtbild nach dem Zweiten Weltkrieg durch gesichtslose Architektur verhunzt haben, hat auch Freiburg sich bemüht – manchmal über Jahrzehnte – die alten markanten Gebäude wieder erstehen zu lassen, manchmal deutlich reduziert, wie das Alte Rathaus, dessen einst opulente Bemalung man durch eine großflächig rote Tünche ersetzt hat, manchmal mit den geretteten Teilen aus den Trümmern, manchmal nur als historische Fassade für moderne Nutzung.

Aber es ist so: Städte leben auch von ihren Fassaden, die eben nicht nur Kulisse sind, sondern auch visuelle Heimat. Und für die Touristen trotzdem beliebtes Fotomotiv – wie die Gerichtslaube hinter den beiden Rathäusern (so wie in Leipzig: einem Alten und einem Neuen), die ebenso eine Nachkriegsrekonstruktion ist, aber dennoch das Gefühl vermittelt, einen Hauch der Jahre 1497/1498 zu atmen, als Maximilian I. sehr kurzfristig den Reichstag nach Freiburg einberief.

Aber da der geplante Saal im Kornhaus noch nicht fertig war, musste in der Gerichtslaube getagt werden, wo unter anderem entschieden wurde, dass die Ritter ihre üblichen Fehden nicht mehr austragen durften. Was ja dann einigen berühmten Rittern künftig den Kopf kosten sollte. Man tat wohl auch als Ritter gut daran, sich auch über die Entscheidungen des Königs auf dem Laufenden zu halten und sich nicht doof zu stellen.

Dafür begegnet man in Freiburg gar keinen Rittern. Nicht mal den Zähringern, die auf dem Schlossberg bei Freiburg einst ihre Burg hatten, nach der sie benannt wurden. Die Zähringer verschwanden, die Grafen von Freiburg übernahmen und verkauften die Stadt quasi 1369 an die Freiburger, die damit mal ganz kurz zur Reichsstadt wurden, bevor die Habsburger kamen und die Franzosen, die es ja nicht wirklich weit hatten.

Zwischendurch die übliche deutsche Geschichte, die einem eigentlich langsam sauer aufstößt: Judenvertreibung, Hexenverfolgung, Krieg, Siegesdenkmal. Ja, die Freiburger haben ihr Siegesdenkmal noch. Da gab es augenscheinlich 1945 keinen tatkräftigen SPD-Bürgermeister, der dieses Schaumal des Militarismus einfach hätte abräumen lassen. Es blieb stehen. Und als es 2017 seinen Standort wechseln sollte, diskutierte auch Freiburg. Am Ende verrückte man es nur und deklarierte es zum Mahnmal gegen Krieg und Nationalismus um. Wenn’s denn mal hilft …

Das ist dann erst mal Station Nr. 10 auf dem Rundgang, bevor man zum wiederaufgebauten Teil der einst riesigen Karlskaserne kommt. Was freilich in Freiburg niemanden auf die Idee brächte, die Stadt mit Garnisonsstadt zu betiteln, wie es das arme Frankenberg in Sachsen mittlerweile wieder macht. Was für eine touristische Verlockung: Garnisonsstadt …

Keine zehn Pferde …

Dann lieber nach Freiburg, wo man nach einem ausführlichen Besuch im Münster und einem Aufstieg zur besten Übersicht über die Stadt das Historische Kaufhaus bestaunen kann und spätestens an der Alten Wache einen richtig schönen Freisitz findet, auch wenn Steffi Böttger erst viel später verrät, dass ihr die Füße zu schmerzen begannen (Station 33: ein Fußbad in der Dreisam).

Aber eigentlich ist sie selbst schuld: Sie lässt keine Kirche aus. Dabei dürfte den meisten schon nach dem Aufstieg auf den alles überragenden Turm des Münsters erst einmal die Puste ausgegangen sein. Und die Hälfte der Reisebegleitung wird sowieso erst mal in der oben erwähnten Konviktsstraße („Wolfshöhle“) hängengeblieben sein.

Die Stadtrundgänge, von denen der Lehmstedt Verlag so gern meint, man würde sie an einem Tag bewältigen, sind wirklich nur etwas für Durchtrainierte, die unbedingt alles Wichtige an einem Tag ablaufen wollen. Was man gesehen hat, kann man ja hinterher auf dem Smartphone nachschauen.

Richtig geübte Städtereisende haben einen anderen Schritt drauf, wesentlich gelassener. Und man pausiert nicht einfach nur an jedem schönen Freisitz, sondern genießt es auch, dass man – anders als die Einheimischen – nicht rennen muss und diese Stadt erleben darf, wie man sie nur als Gast erlebt. Da ist es völlig egal, was der eine Uhrzeiger an der Uhr am Münster anzeigt. Was man wirklich hat, wenn man auf Reisen ist, ist Zeit.

Zeit, in der man gemütlich die kleinen Bächle überall in der Stadt bewundern kann und auch mal die Zinnfigurenklause im Schwabentor besuchen kann. Einfach Zeit, wieder kindlich zu strahlen und zu schauen. Niemand erwartet von einem eine Doktorarbeit hinterher, bestenfalls eine kleine Auskunft, ob man es zu Fuß auf den Schlossberg geschafft hat oder mit der Schrägbahn hochgefahren ist. Oben erzählt Steffi Böttger dann die Geschichte der Zähringer, bevor es wieder hinuntergeht auf die Insel, wo es sogar eine echte Alemannische Bühne gibt.

Die Erinnerung ist ja wichtig: Man ist im einstigen Reich der Alemannen. Und weil jetzt gleich wieder ein paar Kirchen folgen, ist eigentlich klar, dass Steffi Böttger bei Nr. 33 die Füße wehtun. Und dabei geht’s ja danach erst wieder zurück in den Trubel der Geschäftsstraßen, bevor es mit Augustinermuseum und Universitätskirche und Herz-Jesu-Kirche noch einmal christlich wird. Natürlich fällt das auf, wenn eine Stadt, nicht mal halb so groß wie Leipzig, derartig viele Kirchen hat. Was auch wieder typisch ist für den Süden.

Man hätte ja gern auch noch ein paar kluge Dichterinnen und Dichter getroffen unterwegs. Aber die hat es irgendwie nicht so nach Freiburg gezogen. Anders als solche durchaus umstrittenen Leute wie Martin Heidegger und Friedrich August von Hayek, die beide an der Uni in Freiburg lehrten. Dann doch lieber Alfred Döblin, den man nie und nimmer in Freiburg erwartet hätte, da er ja mit „Berlin Alexanderplatz“ den Berlin-Roman des 20. Jahrhunderts geschrieben hat.

Aber in Freiburg hat er vorher Medizin studiert und seine Dissertation über den Gedächtnisverlust in alkoholgeschädigten Gehirnen geschrieben. Setzt man sich also nach der letzten Runde zu Universität, Theater und Konzerthaus völlig knickefertig in den Zug und holt sich – wahlweise – „Berlin Alexanderplatz“ aus dem Rucksack oder Döblins Dissertation, die einem so einiges erklärt über die berühmten Gedächtnislücken diverser Männer in gehobenen Positionen. Dafür lohnt sich eigentlich die Fahrt.

Und warum haben wir den berühmten Mönch Berthold Schwarz jetzt nicht erwähnt: Da steht doch auch extra ein Denkmal in Freiburg für diese so weltstürzende (Neu-)Erfindung des Schwarzpulvers. Na ja, merkt Steffi Böttger an: Den hat es wohl gar nicht gegeben. Manchmal besteht die Geschichte aus ein paar seltsamen Anekdoten, die die Löcher stopfen, die andernorts durch Gedächtnisverluste entstanden sind.

Steffi Böttger Freiburg an einem Tag, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2021, 6 Euro.

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