Darf der Mensch protestieren? Darf er nicht einverstanden sein mit dem, was Mächtige tun und verordnen? Darf er. Ohne Proteste gibt es keinen Fortschritt. Auch wenn es einen deutlichen Unterschied macht, ob Menschen in Diktaturen den Mut finden, ihren Protest öffentlich zu zeigen. Oder ob sie in Demokratien ihre Meinung öffentlich machen. 32 klassische Protestformen zeigt dieses Buch in Bild und kleinen Beispieltexten.

Und darunter sind auch echte Klassiker wie Streik und Boykott, deren Herkunft erklärt wird. Beide entstanden im englischen Sprachraum und zeigen, wie die tatsächlich Schwachen auch mit Verweigerung dafür sorgen können, dass die Reichen und Mächtigen einlenken müssen. Das wird so gern vergessen von den Schwachen: dass ohne sie gar nichts läuft.

Was ja einen gewissen Herrn Marx dazu brachte sie aufzufordern, sich endlich zusammenzutun. Was sie dann auch taten. Zum Beispiel in den Gewerkschaften, manchmal auch in Parteien, die sich mal den Interessen der Ausgebeuteten widmeten.

Protest schafft Gemeinschaft

Aber auch zu Protesten muss man sich zusammentun. Man braucht immer Mitstreiter, die einem zur Seite stehen. Gerade dann, wenn man – wie beim Hungerstreik – auch sein Leben einsetzt, um für eine Sache zu kämpfen.

Aber es gibt auch viele Protestarten, bei denen es völlig reicht, dabei zu sein und Präsenz zu zeigen. Bei Lichterketten zum Beispiel, bei Mahnwachen, Schweigemärschen und Menschenketten. Wie damals, als wir große Menschenketten gegen den Krieg im Irak bildeten. Und es trotzdem nichts half. Wer protestiert, muss auch damit rechnen, dass es die großen Elefanten nicht juckt. Dass sie im Gegenteil sogar die Polizei losschicken, den Protest von der Straße zu räumen. So wie beim G20-Gipfel in Hamburg.

Darf man das dann vergleichen mit den wirklich gefährlichen Protesten etwa in Ländern wie dem Iran oder in Hongkong?

Darf man.

Denn auch der Umgang des Staates mit den Protesten zeigt, in welcher Gesellschaft man wirklich lebt. Demokratien lassen deutlich mehr Freiräume für Protest. Auch wenn die Grenze zur Ordnungswidrigkeit schmal ist und diejenigen, gegen die man protestiert, nur zu gern ihre Macht nutzen, die Protestierenden vor Gericht zu zerren. So wie bei den friedlichen Besetzungen in sächsischen Tagebauen.

Natürlich gibt es Protestformen, in denen es vor allem darum geht, dass die Botschaft von Öffentlichkeit und Medien wahrgenommen und verbreitet wird – Performance zum Beispiel, Musik, Lyrik oder das öffentliche Gedenken an zurückliegende Ereignisse, die von den Regierenden so gern vergessen werden. Man denke nur an die Pogrome von Rostock und Hoyerswerda oder den Brandanschlag in Mölln.

Ja, auch Graffiti gehören zum Protest – nämlich dann, wenn sie an vertuschte Verbrechen erinnern, an Femizide, Hassmorde oder staatliche Aufklärungsverweigerung.

Protest macht öffentlich

Genauso wie Aufklärung selbst zum Protest gehört, dann nämlich, wenn sich Initiativen darum bemühen, solche staatlichen Vertuschungen in der Erinnerung zu halten und alle verfügbaren Informationen öffentlich zu machen. Protest lebt von der Öffentlichkeit. Und von Bildern. Weshalb in diesem Buch vor allem die Illustrationen von Mortezza Rakhtala sprechen, die einige der bekanntesten Proteste der Vergangenheit aufgreifen. Als Beispiel, wie Menschen auch und gerade dann mutig auf die Straße gehen, wenn sie damit rechnen müssen, dass die Mächtigen den Protest mit Gewalt unterdrücken wollen.

Oder auch nur die Gefahr besteht. Denn wie die Machthaber reagieren werden, weiß man nicht immer. So ein Moment war ja der 9. Oktober 1989 in Leipzig. Zwei Tage zuvor hatte die Staatsmacht in Ostberlin noch mit rabiater Gewalt reagiert. Ob sie in Leipzig dann mit Wasserwerfern, Räumgerät und Gummiknüppeln loslegen würde, war völlig offen. Am Ende waren es die 100.000 Menschen auf der Straße, welche die Verantwortlichen zögern ließen.

Aber wenig später erlebten die Ostdeutschen eben auch mit, wie selbst der berechtigtste Protest verpuffen konnte, wenn sie am kürzeren Hebel saßen – so wie die Arbeiter von Bischofferode, deren langer Spaziergang am Ende ohne Erfolg blieb.

Irgendwann steht dann wirklich die Frage: Gibt man auf? Oder ist das Anliegen viel zu wichtig, als dass man jetzt so tun könnte, als wäre das Thema vom Tisch? Was dieses Buch zum Beispiel unterm Stichwort „Ziviler Ungehorsam“ benennt und die Bewegung von „Fridays for Future“ (FFF) als Beispiel nennt.

Wer hat die Deutungshoheit?

Natürlich kann man an dieser Stelle diskutieren. Reicht es nicht, wenn die jungen Menschen von FFF freitags die Schule (oder besser: ein paar Schulstunden) schwänzen? Braucht es die deutlich radikaleren Aktionen von „Letzte Generation“ oder „Extinction Rebellion“? Das wird aber niemand beantworten können. Auch nicht die selbstgerechten alten Männer, die dann im Fernsehen oder in Zeitungskommentaren erklären, wie kriminell diese Proteste – aus ihrer Sicht – sind.

Denn in der Welt der Menschen geht es immer interessengeleitet zu. Und wo die jungen Menschen begriffen haben, dass die Zerstörung des Klimas uns alle betrifft und eine einzige Katastrophe ist, prallt ihr Protest an der Fläzigkeit von reichen Wohlstandsbürgern ab, die gar nicht daran denken wollen, ihr klimaschädliches Verhalten zu ändern. Von den riesigen Konzernen, die mit Klimazerstörung ihr Geld verdienen, ganz zu schweigen.

Da ist dann eher wichtig, wie Medien über die Proteste berichten. Ob sie das Anliegen vermitteln und überhaupt hinschauen. Oder ob sie die Brisanz des Protests – man denke nur an den Schweigemarsch der Angehörigen der NSU-Opfer von 2006 – einfach bagatellisieren. Mit fatalen Folgen, wie wir wissen. Bis 2011 konnte das NSU-Trio weiter morden und rauben und unbehelligt im sächsischen Zwickau leben.

Manche Protestformen zielen von Vornherein auf den Konflikt – so wie die Sabotage, die französische Feldarbeiterinnen im 18. Jahrhundert entwickelten, oder die Hausbesetzung, die sich gegen eine verfehlte Wohnungspolitik richtet. Ganz zu schweigen vom bewaffneten Kampf, wenn zum Beispiel unterdrückte Völker den Aufstand gegen ihre Kolonialherren wagen, wie die Herero in der deutschen Kolonie Südwestafrika.

Natürlich sind auch die hier beschriebenen 32 Protestformen nur eine kleine Auswahl aus dem viel reicheren Repertoire der Protestkultur. Aber schon diese Auswahl zeigt, dass Protest zum menschlichen Miteinander gehört. Manchmal schon geradezu ritualisiert, wie die diversen Warnstreiks der Gewerkschaften, mit denen sie neue Lohnverhandlungen einläuten. Manchmal in Innenräumen, wie die seit den 68ern bekannten Formen der Tribunale. Manchmal direkt an die Institution gerichtet, wo protestiert wird (wie jüngst bei den Hörsaalbesetzungen an der Uni Leipzig), manchmal als Protestlager oder Straßenblockade.

Es geht immer um die Botschaft. Und manchmal ist ein auffälliger Protest die einzige Möglichkeit, um die Dringlichkeit der Botschaft zu vermitteln. Dabei ist noch nicht gesagt, um welche Botschaft es geht. Oft entsteht der Protest ja erst genau dann, wenn Menschen merken, dass etwas völlig falsch läuft – man denke nur an die Gelbwesten-Proteste in Frankreich oder die Demonstrationen der „Black Lives Matter“-Bewegung.

Meist braucht es Mut dazu, sich mit seinem Widerspruch auf die Straße zu wagen. Aber die Bilder zeigen auch, wie sehr die Bilder von Protesten auch zur Ikone werden und auch noch Jahre und Jahrzehnte später daran erinnern, dass man um menschliche Werte auch immer wieder kämpfen muss.

Anna Sabel „P wie Protest. Ein Widerstandswörterbuch in Bildern“, Edition Assemblage, Münster 2022, 8,50 Euro.

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