Energiekrise, Ukraine-Krieg, Inflation, Klimawandel, Pandemie, Migrationsbewegungen, soziale Polarisierung – wohl nahezu jeder Mensch könnte aus der Hüfte heraus gerade die drängendsten Probleme benennen, die uns zum Ende des scheidenden Jahres 2022 hin beschäftigen und die Zukunft ungewisser denn je erscheinen lassen.

Hatte manch einer vielleicht gehofft, dass wir 2022 die schlimmsten Folgen der Pandemie überwinden und langsam zu einer beruhigten Normalität zurückfinden, so machte uns spätestens Wladimir Putin mit seinem verbrecherischen Angriff auf die Ukraine und allen Konsequenzen am 24. Februar 2022 einen fetten Strich durch die Rechnung.

Demokratie-Zufriedenheit sinkt

Der gefühlte und reale Dauerkrisen-Modus geht also weiter, ein Ende zeichnet sich nicht ab und die Herausforderungen, vor denen die Menschen kollektiv wie individuell stehen, wirkt offenbar auch auf das Zutrauen in die Demokratie zurück.

So äußerten sich in einer Bertelsmann-Umfrage aus dem September 2022 lediglich 54 Prozent der Menschen in Deutschland zufrieden mit dem Funktionieren der Demokratie im Staat – im März 2022 waren es noch 66 Prozent gewesen. Damit liegen sie fast gleichauf mit den US-Amerikanern, von denen 55 Prozent ihr System als intakt einstufen. Ähnlich dicht beieinander fallen die Werte bei der Frage aus, ob die Regierung in der Lage ist, die drängendsten Probleme anzugehen: Dem wollten nur 47 Prozent der Deutschen und 49 Prozent der US-Bürger zustimmen.

Das Narrativ der effektiven Diktatur

Sicher ist, dass die Demokratie als Modell sich immer noch einer hohen Grundakzeptanz bei den Menschen erfreut, zugleich aber die amtierenden Regierungen Deutschlands und der USA wesentlich schlechter in der Bewertung abschneiden.

Vielleicht ist es auch der schon oberflächliche Blick in die Nachrichten, der das Bewusstsein für die Demokratie schärft: Im Iran kommt es seit Monaten zu anhaltenden Protesten gegen das Regime, welches rigoros und brutal zurückschlägt.

Chinas Zentralregierung kann die Unruhe wegen ihrer brachialen Null-COVID-Politik nicht mehr deckeln und sieht sich zu Zugeständnissen genötigt, während Russlands Führung durch den Angriff auf die Ukraine und die westlichen Sanktionen die eigene, ohnehin anfällige Exportwirtschaft endgültig an die Wand zu fahren droht.

Doch was heißt das alles? Zerlegt das, was gerade passiert, womöglich auch die provokant gestellte Frage, ob man nicht eben mal „mehr Diktatur wagen“ müsse, um all die Probleme, die keinen Aufschub mehr dulden, endlich mit der nötigen Vehemenz in den Griff zu bekommen? Kann es die liberale Demokratie am Ende doch besser?

Krisenbewältigung als Stressfaktor

Angesichts der multiplen Krisensituation drängt sich diese Frage mit aller Macht auf, gerade wenn wir das Jahr 2022 Revue passieren lassen. Und sie ist nicht einfach mit einem Satz zu beantworten. Denn wir alle wissen, dass ein demokratisch verfasstes System beispielsweise in der Gesetzgebung meist viel länger benötigt als eine Diktatur.

Entscheidungen müssen ausgehandelt, debattiert, neu gewichtet und letztlich ein Kompromiss zwischen verschiedenen Parteien gefunden werden, bei dem im Zweifel alle Beteiligten Federn lassen. Erinnern wir uns nur an die jüngste Diskussion zum Bürgergeld und der Reform des Hartz-IV-Systems – ein zentrales Projekt, das die Ampel letztlich nur unter gewichtigen Zugeständnissen Richtung Union durchbringen konnte.

Demgegenüber können autokratisch verfasste Staaten gerade in einer akuten Krise wesentlich schneller und zielgerichteter reagieren, wie es sich etwa während der Pandemie in China gezeigt hat – dort wurden im Frühjahr 2020 neue Kliniken mal eben in ein paar Tagen aus dem Boden gestampft.

Beobachtungen dieser Art verführen zuweilen zum Glauben, ein simples Top-Down-Modell von Befehl und sofortiger Umsetzung könnte uns auch in Deutschland bei den vielen, ungelösten Problemen rasch voranbringen.

Dynamische und statische Effizienz

Doch sollte man dieser vereinfachenden Versuchung nicht aufsitzen – denn mal davon abgesehen, dass befohlene ad-hoc-Lösungen in Autokratien oft nur unter massiver Ignoranz etwa von Bürgerrechten und Umweltschutz realisiert werden, ist nicht gesagt, dass sie sich dann auch langfristig als das beste Konzept erweisen. Man schaue nur auf das Lavieren der KP in China angesichts von Corona.

Auch im Großen, für die politischen Systeme insgesamt, gilt Ähnliches. Ökonomen kennen das Modell einer „statischen Effizienz“ – gemeint ist ein Organisations- und Gesellschaftssystem, welches im Kontext eines bestimmten Zeitraums und an einem bestimmten Ort funktioniert – und einer „dynamischen Effizienz“, das heißt ein Modell, das sich erfolgreich an veränderte Bedingungen anzupassen vermag.

Warum dem Kommunismus die Puste ausging

Um das mal an einem Beispiel aus der Geschichte greifbarer zu machen: Das kommunistische bzw. sozialistische Gesellschaftssystem des 20. Jahrhunderts war auch unter Intellektuellen zeitweise deswegen populär, weil es auf kurze Sicht die Industrialisierung in Ländern wie der Sowjetunion brachial vorantrieb, beeindruckende Wachstumszahlen aufwies, später den ersten Satelliten und dann gar Mensch ins All schoss – wer wollte zweifeln, dass diesem Modell die Zukunft gehört?

Aus der Rückschau wissen wir es freilich besser: Nicht allein, dass die staatlich dirigierte, sogenannte Planwirtschaft einen hohen Preis für diese Erfolge zahlte. Sie konnte – kurzfristig – in der Tat per strikter Befehlshierarchie mehr und schneller anschieben, als es in einer Marktwirtschaft möglich gewesen wäre.

Doch spätestens seit den siebziger Jahren verfiel das Modell zunehmend bis zum finalen Kollaps, weil es in sich viel zu erstarrt und schwerfällig war, um flexibel auf sich verändernde Faktoren in der Weltwirtschaft zu reagieren. Das Ende vom Lied ist bekannt. Freiheit, Kreativität und Wettbewerb hatten den langen Ausdauerlauf am Ende doch gewonnen.

Resilienz des Systems

Ähnlich könnte man auch bei der liberalen Demokratie westlicher Prägung argumentieren, die sich als Prinzip trotz aller Unzulänglichkeiten immer noch einer hohen Akzeptanz erfreut – darüber können auch selbst ernannte Querdenker mit ihren Protesten nicht hinwegtäuschen. Und gerade der Rückhalt der Demokratie in der Gesellschaft ist es, der ihr auch eine gewisse Resilienz in Krisenzeiten verleiht.

Resilienz, wohl nicht zufällig ein in die Mode gekommener Begriff, meint vor allem die Widerstandsfähigkeit gegen Krisensituationen. Übertragen auf das demokratische System bedeutet dies, dass es trotz aller realen Probleme und Fehlerhaftigkeit zwar keineswegs immun, aber doch robust gegen die Gefahr eines Zusammenbruchs aufgestellt ist.

Als entscheidende Faktoren dafür gelten neben einer wirtschaftlichen Entwicklung unter anderem auch die gesammelten Erfahrungswerte mit den Institutionen des Systems, eine unabhängige Rechtsprechung und demokratisch verfasste Länder in der Umgebung, die sozusagen positiv ausstrahlen können.

Gerade Gerichten, die beispielsweise während der der Corona-Pandemie überzogene Eingriffe in die Privatsphäre der Bürgerinnen und Bürger gekippt und damit staatliche Entscheidungen beschnitten haben, kommt zur Stabilisierung der Demokratie eine Schlüsselrolle zu.

Gefahren für die Demokratie

Solcherlei Mechanismen gibt es in Diktaturen nicht, davon abgesehen, dass sie sich gerade dabei, der eigenen Bevölkerung ein auch nur bescheidenes Wohlstandsniveau zu bieten, vielfach als unfähig herausstellen. China schien sich hier mit seinem Modell aus Einparteienherrschaft und radikalem Staatskapitalismus lange Zeit noch davon abzuheben. Doch auch dort sind die vielen Probleme nicht zu übersehen.

Gehört der liberalen Demokratie also auf lange Sicht doch die Zukunft? Manche Argumente sprechen dafür, vorhersagen lässt es sich freilich nicht. Und schon gar nicht können wir uns entspannt zurücklehnen – dazu sind die Probleme viel zu mannigfaltig und eine Erosion von Demokratie und Freiheitsrechten auch in Deutschland ist nicht nur nicht auszuschließen, sondern oft schon sichtbar.

Erinnert sei nur an die gesetzlich verbriefte Pressefreiheit in der Bundesrepublik, die sich nach Einschätzung von „Reporter ohne Grenzen“ 2022 zum wiederholten Male verschlechtert hat – schon seit 2021 gilt sie im weltweiten Ranking nicht mehr als „gut“, sondern nur noch „zufriedenstellend.“

Neben abnehmender Pluralität der Medienlandschaft und Schwierigkeiten beim Informantenschutz wird besonders die zunehmende Gewalt gegen Journalistinnen und Journalisten ins Feld geführt, warum Deutschland hier weiter abgerutscht ist.

Die jüngsten Razzien gegen sogenannte Reichsbürger belegen ebenfalls nur zu gut, welche inneren Gefahren auch hier weiter präsent sind.

Das „Ende der Geschichte“ ist eine Mär

Auch global gesehen dürfen wir nicht in den naiven Glauben vom „Ende der Geschichte“ verfallen, der nach dem Kollaps des Ostblocks sehr populär war und quasi von einem Siegeszug von Demokratie und freier Marktwirtschaft ausging. Viele Entwicklungspfade von Ländern auf der Welt haben diese These längst widerlegt, oft konnten sich demokratische Ansätze nicht auf Dauer etablieren, wie etwa beim „Arabischen Frühling“ der Jahre 2010 und 2011 zu sehen.

Lediglich dem lange autokratisch verfassten Tunesien gelang damals nach den Aufständen eine erfolgreiche Transformation, die mittlerweile aber, auch durch den Regierungsstil des Präsidenten Kais Saied, bereits wieder infrage gestellt wird – von der prekären Lebenssituation vieler Menschen vor Ort ganz zu schweigen.

Zudem sehen sich auch die Vereinigten Staaten mit großen Herausforderungen konfrontiert. Uns allen ist noch der Sturm auf das Kapitol in Washington vom Januar 2021 in Erinnerung, der keineswegs aus dem Nichts kam, sondern im Cocktail aus rechtsextremem Denken, Feindbildern und Verschwörungsmythen seine Wurzeln hat – und von „ganz oben“ befeuert wurde.

Demokratie ist mühsam und beschwerlich

Kein demokratisches System ist also gegen Erosion und Autokratisierungsprozesse völlig sicher. Uns immer wieder bewusst zu werden, wo die Dinge im Argen liegen, auf Missstände hinzuweisen und Reformen anzustoßen, ist und bleibt die Aufgabe von uns allen.

Demokratie ist mühsam, anstrengend in ihrer Entscheidungsfindung und manchmal frustrierend, wenn Ergebnisse nicht so ausfallen, wie man es sich gewünscht hätte.

Und doch lohnt es sich immer wieder, für die Demokratie und die Freiheitsrechte einzutreten – auch und gerade in Zeiten wie jetzt wie in der Zukunft.

„Erfolgsmodell Demokratie, Auslaufmodell Diktatur?“ erschien erstmals am 16. Dezember 2022 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 109 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.

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