Früher war jeder Bauer froh, wenn er noch einen Kastanienbaum hatte. Am besten einen mit Esskastanien. Dann hatte er immer noch eine Sicherheit für Zeiten schlechter Ernten. Doch irgendwie sind die Kastanien aus dem Blickfeld unserer Nahrungsbeschaffung verschwunden. Außer zu Weihnachten, wenn es auf den Weihnachtsmärkten heiße Esskastanien oder Maroni gibt. Was nicht dasselbe ist. Aber essen kann man beide.

Anders als die Rosskastanien, die vor ein paar Wochen dick und prall auf die Erde prasselten. Die sind zwar für diverse wilde Tiere genießbar, für Menschen jedoch eher giftig. Dafür eignen sie sich gut zum Basteln und – wie man in diesem Büchlein von Anja Stiller erfährt – zum Fernhalten von Spinnen, wenn man sie frisch und rund in der Wohnung platziert. Falls jemand von Spinnen geplagt sein sollte.

Aber da es mit den Kastanien so ist wie mit den meisten Früchten aus unserer Flur, dass wir sie schlichtweg nicht mehr kennen, weil wir uns unser Futter fertig zubereitet aus den Supermärkten holen, ist dieses Büchlein eine gute Gelegenheit, das Wichtigste zu den diversen Kastanien zu erfahren. Angefangen mit dem Unterschied zwischen Rosskastanien und Esskastanien.

Also ganz von vorn, so wie es früher mal im Heimatkundeunterricht vonstattenging, als die Lehrer mit den Kindern noch das Schulhaus verließen und es draußen noch mehr lebendige Natur gab. Und Eltern nicht gleich in Panik gerieten, wenn die Exkursion in den Wald ging.

Kastanien zum Basteln und Kastanien zum Essen

Es sind tatsächlich solche kleinen Ratgeber, die immer sichtbarer machen, wie viel wir an Naturerlebnis inzwischen verloren haben und wie wir uns der lebendigen Welt entfremdet haben. Hier geht es nicht nur ums Essen (auch wenn es natürlich wieder einen Haufen neuer Rezepte mit Esskastanien drin gibt), sondern um die Kenntnis unserer Umwelt, sondern auch die von markanten Bäumen wie den Rosskastanien, die mit ihren leuchtenden Blüten nicht nur eine Zierde von Parks in der Großstadt sind (sofern nicht in den letzten Jahren vertrocknet oder von der Miniermotte geplagt).

Und wenn es ihnen gut geht, sorgen ihre Früchte Herbst für Herbst für kindliche Begeisterung: So dankbares Bastelmaterial spendieren nicht viele Bäume.

Aber weil man die seifigen Früchte lieber nicht essen sollte, konzentriert sich Anja Stiller dann doch eher auf die Ess- oder Edelkastanien, die da und dort bei uns noch in Parks und Wäldern stehen. Fast vergessen, weil viele Menschen nicht mal wissen, dass man die Früchte dieses Baumes, der eigentlich zu den Buchengewächsen gehört, tatsächlich essen kann.

Möglichst nicht roh, sondern entsprechend zubereitet. Aber es überrascht nicht, dass dieser Baum von den Menschen im Kaukasus schon vor ein paar tausend Jahren kultiviert wurde und dann über Griechenland seinen Zug rund ums Mittelmeer antrat.

In Griechenland wurde die Esskastanie auch noch als „Eichel des Zeus“ verehrt, erfährt man. Der lüsterne Gott hatte sich mal wieder vorgenommen, eine keusche Nymphe zu vergewaltigen, doch die wollte lieber tot sein, als sich diesem Lüstling ergeben. So alt sind die Geschichten über übergriffige Männer also schon.

Reue war es wohl eher nicht, die Zeus dazu brachte, die Nymphe Nea nun in eine Esskastanie zu verwandeln.

Zur Not aus dem Supermarktregal

Heute sind mehrere hundert Sorten bekannt, in einigen Ländern – wie Frankreich – auch in größeren Plantagen kultiviert, sodass auch die Supermarktregale hierzulande regelmäßigen Nachschub an Esskastanien bekommen. Womit die Autorin natürlich empfiehlt, sich den Beutel Esskastanien aus dem Supermarkt zu holen, wenn man nicht weiß, wo noch ein Baum dieser Art in der näheren Umgebung steht. Denn eigentlich werden diese Bäume uralt, mehrere hundert Jahre. Der älteste soll auf Sizilien stehen.

Voller wertvoller Inhaltsstoffe sind die Esskastanien natürlich auch. Vielleicht lernen wir es ja wieder, zu den Früchten der Natur zu greifen, wenn uns die üblichen Allergien und Zivilisationskrankheiten zu plagen beginnen. All die Leiden, die auch damit zu tun haben, dass wir uns von künstlichen Fabrikaten aus der Fabrik ernähren, aber dadurch den Zugang zum Vitaminreichtum unserer Natur verlieren.

Das Verblüffendste, so Anja Stiller, ist nicht nur der hohe Vitamin- und Mineralgehalt der Maroni, sondern dass sie unheimlich schnell sättigen. Weshalb kluge Bauern eben dereinst auch Esskastanien auf ihrem Grund stehen hatten. Neben anderen nützlichen Bäume wie Haselnuss, Holunder usw. Alles Bäume, die man heute auch in Dörfern immer seltener findet, weil alle Leute wie besessen sind von englischem Rasen.

Dabei wäre das auch heute noch eine echte Vorratshaltung, wenn man im Herbst seine Esskastanien einsammeln würde und einlagern, um sie in der kalten Jahreszeit nach und nach zu verarbeiten. Wie das geht, schildert Anja Stiller natürlich ausführlich, genauso wie die Bedingungen der Lagerung und Haltbarmachung.

Maroni-Suppe und Kastanieneis

Und dann kann es eigentlich losgehen. Denn wenn man die Esskastanien erst einmal im Haus hat, kann man sie auch selbst rösten, sie aber auch in Brot, Brötchen und Kuchen verbacken, Konfitüre und Aufstrich daraus bereiten oder so etwas winterlich Herzhaftes wie eine Steinpilz-Maroni-Suppe kochen. Nachher wird einem sowieso schon beim Blättern der Appetit kommen bei Maroni im Speckmantel, Bandnudeln mit Maroni oder einer Kartoffel-Maroni-Pfanne.

Auch etliche Süßspeisen wie Kastanieneis oder Kastaniencreme haben sich ins Büchlein verirrt. Mit süßem Krapfen und Kastanienkuchen aus der Toskana als Höhepunkt. Quasi als Erinnerung daran, dass die Maroni in den Mittelmeerländern noch ganz selbstverständlich zur guten Küche gehört.

Aber vielleicht hat man ja beim Spaziergang eine Esskastanie in der Nähe gefunden. Dann kann man es mit Tipps aus diesem Büchlein ja auch selbst einmal versuchen, diese Gabe der Natur wieder zum Teil der eigenen Küche zu machen. Und sich beiläufig daran erinnern, wie sehr wir in Wirklichkeit genau auf diese Gaben angewiesen sind und es ganz bestimmt nicht dumm ist, wieder zu lernen, was in der „wilden“ Natur an Essbarem wächst.

Denn dann denkt man auch anders über „Wildnis“ und wie sehr sie zunehmend in unseren künstlich „bereinigten“ Lebensräumen fehlt.

Anja Stiller „Esskastanien“, Buchverlag für die Frau, Leipzig 2023, 6 Euro.

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