Wie schreibt man eigentlich noch Krimis in hyperventilierenden Zeiten? Wo sich doch das Publikum lรคngst daran gewรถhnt hat, dass selbst die Medien รผberdrehen, jeden Vorfall zum Zirkusdrama machen und sich benehmen, als wรคren sie die Vollstrecker eines entfesselten Volkszorns. Obwohl der Volkszorn im Grunde meist nur ein selbstgerechter kleiner Bรผrger ist, der sich jeder Skandalgeschichte als Hauptzeuge zur Verfรผgung stellt und โ€žDampf machtโ€œ. Also rein damit als Prise in einen Krimi, in dem es eigentlich nicht um diese kleinen Selbstgerechten geht. Sondern um selbstgerechte Mรถrder.

Und das gleich doppelt. Denn die Ermittlungen, die Mohrs Kommissar Joseph Kafka in einer anonym bleibenden sรคchsischen GroรŸstadt anstellt, beschรคftigen sich mit einem Thema, das in jรผngster Zeit mehrfach die Medien beschรคftigt hat: mysteriรถsen Todesfรคllen in einer groรŸen Klinik in einer Abteilung, in der vor allem รคltere Patienten landen.

Patienten, die vielleicht nicht mehr allzu viel Leben vor sich haben. Aber auch sie geraten in ein System, in dem an allen Ecken gespart wird. Vor allem beim Personal. Eigentlich genug Stoff fรผr einen Krimi, der die aktuellen Zustรคnde im deutschen Gesundheitssystem aufs Korn nimmt, die schon lange nicht mehr akzeptabel sind.

Kliniken sind zu regelrechten Fabriken geworden, in denen mit der Stoppuhr und mit Fallpauschalen gearbeitet wird, in denen der Profit รผber alles geht und gerade das Pflegepersonal รผber Jahre systematisch ausgedรผnnt wurde.

Kein Wunder, dass die Stimmung in dieser Abteilung in der Sonnen-Klinik gereizt ist, der Umgang der Schwestern mit den Patienten zuweilen rabiat und gefรผhllos. Und dass Pfleger wie Daniel darunter auch leiden, weil das alles mit einem fรผrsorglichen Umgang mit Patienten nichts mehr zu tun hat.

Doch er Verdacht, dass es in der Abteilung zu besonders vielen Todesfรคllen kommt, ist erst einmal nur vage. Die Untersuchungen in der Klinik sind bรผrokratisch und nicht wirklich zielgerichtet. Dass der Klinikdirektor selbst unter Druck steht, weil auch der โ€žgute Rufโ€œ des Hauses gefรคhrdet ist, wenn sich der Verdacht bestรคtigt, erfahren Kafka und seine junge Praktikantin Claudia Funke dann logischerweise auch โ€“ spรคter, als sie beide die Sache energischer in die Hand nehmen.

Denn wรคhrend einige sensationsgeile Leute drauรŸen den Boulevard befeuern mit vรถllig รผberzogenen Erwartungen an die Ermittlungsarbeit der Polizei, neigen die internen Ablรคufe dazu, sehr bรผrokratisch und zรคh abzulaufen.

Kafkas Mission

Aber richtig Feuer in die ganze Sache kommt an dem Tag, als ausgerechnet die leitende Schwester, die fรผr einen gut Teil der miserablen Stimmung auf der Station verantwortlich ist, ganz in der Nรคhe der Klinik umgebracht wird.

Das ist der Punkt, an dem Kafka und seine Assistentin alle Bremsen lรถsen und nun alles daran setzen, den Tรคter so schnell wie mรถglich zu fassen. Dass es fรผr Kafka ein alter Bekannter ist, wird erst spรคter klar. Und dass die Gedanken รผber die โ€žSterbehilfeโ€œ in dieser Klinik mit einer ganz anderen Geschichte zusammenhรคngen, ebenfalls.

Denn Joseph Kafka hat auch noch eine Mission. Auch wenn er nicht weiรŸ, wie er dazu kommt. Wรคhrend einer Fahrt mit seinem alten Auto rutscht er auf einmal aus der Zeit und landet im wirklich finsteren Jahr 1941.

Ein Jahr, in dem die deutsche Wehrmacht nicht nur die Sowjetunion รผberfรคllt, sondern auch die sogenannte Aktion T4 ihren Hรถhepunkt erreicht, von den Nazis verharmlosend als โ€žEuthanasieโ€œ-Programm bezeichnet, obwohl es nichts anderes war als die systematische Tรถtung behinderter Menschen โ€“ unter anderem in der โ€žHeilanstaltโ€œ Pirna-Sonnenstein, in die Kafka auf seiner letzten โ€žReise in die Vergangenheitโ€œ landet. Denn er hat tatsรคchlich eine Mission, die mit diesem Tรถtungsprogramm der Nazis zu tun hat, in das auch sรคchsische ร„rzte eingebunden waren.

Was ihm da passiert, ob das nur Einbildung ist oder tatsรคchlich erlebt, weiรŸ Kafka nicht so recht, sucht Rat bei einem Psychologen und einem Pfarrer. Denn irgendwie landet er doch immer wieder in der Gegenwart, wenn auch mit unรผbersehbaren Beweisen, dass ihm da in der Vergangenheit tatsรคchlich etwas passiert ist.

Und irgendwie scheinen alle โ€žRรผckfรคlleโ€œ miteinander zu tun zu haben und Kafka da in der tiefen Vergangenheit unbedingt noch eine Geschichte zu Ende bringen zu mรผssen.

Finale am Kreidefelsen

Was furchterregend genug ist. Denn in dieser Vergangenheit gerรคt er fast zwangslรคufig jedes Mal in Konflikt mit den rabiaten Bรผtteln des NS-Regimes. Und dabei hat er dort weder Geld noch Legitimation, kann sich also auch nicht einfach mal so in den Zug setzen. Eigentlich eine Konstellation wie in einem Albtraum: sich vรถllig ausgeliefert zu fรผhlen, ohne wirklich einen Ausweg zu haben.

Dass er trotzdem immer wieder in der Gegenwart landet, beruhigt ihn nicht wirklich. Auch wenn er hier genug zu tun hat. Erst recht, als klar wird, dass es in der Sonnen-Klinik tatsรคchlich zu mehreren nicht natรผrlichen Todesfรคllen kam.

Aber Kafka hat Glรผck, denn seine neue Assistentin hat Biss und ist genauso schnell bereit, alles einzusetzen, um den Tรคter zu fassen. Oder die Tรคter. Am Ende gipfelt ihr Einsatz in einer wilden Fahrt an die Kรผste, wo sie hoffen kรถnnen, den Tรคter noch zu fassen zu bekommen.

Ausgerechnet an den Kreidefelsen. Und einen ordentlichen Sturm samt Regen gibt es auch noch dazu. Eine Szene, wie vorbereitet fรผr die nรคchste Verfilmung im Fernsehen, wenn die Zuschauer noch einmal so richtig aus den Sesseln gerissen werden sollen.

Aber das รผberblendet nicht ganz die Tatsache, dass Francis Mohr auf beiden Ebenen das Thema โ€žGnadentodโ€œ diskutiert. In zwei vรถllig inakzeptablen Varianten โ€“ den Tรถtungsverbrechen der NS-Zeit und der Selbstjustiz auf einer Krankenstation.

Auch wenn die รคlteren Patienten vielleicht tatsรคchlich geรคuรŸert haben, sie wรผrden nicht mehr leben wollen. Wie geht eine Gesellschaft damit um, die sich mit der Debatte um Sterbehilfe auch wegen der finsteren Vergangenheit so schwertut?

Eine Frage, die Mohr offenlรคsst. Sein Ermittler-Duo hat genug zu tun, den Fall aufzudrรถseln und den Tรคter zu schnappen.

Eine Frage, die sich nicht erledigt

Aber gerade die Szenen in der NS-Zeit zeigen, dass es dabei immer um ein moralisches Handeln geht. Das auch nicht dadurch aufgehoben ist, dass Verbrecher die Regierung รผbernehmen und das Tรถten von Menschen zur Staatsdoktrin machen. Im Gegenteil: Das kรถnnten sie gar nicht, wenn sich auch die โ€žkleinen Leuteโ€œ dieser Zumutung versagen wรผrden. Tun sie aber oft nicht, egal, aus welchen Grรผnden. Und hinterher herrscht dann Schweigen rund um die Orte des Tรถtens, will niemand was gewusst haben.

Durch diese Verschrรคnkung der Zeiten stellt Mohr seine Fragen. Die am Ende auch mit Kafkas Familiengeschichte zu tun haben. Was er noch nicht weiรŸ. Denn um dafรผr einen Nerv zu haben, muss er erst seine โ€žbeiden Fรคlleโ€œ zum Abschluss bringen.

Wobei es ein offenes Ende bleibt. Denn dรผster war die Stimmung in der Stadt auch schon vorher, sorgten mehrere Brรคnde und gewaltsame รœbergriffe dafรผr, dass sich nicht nur Kafka fragte, was in der Stadt eigentlich los ist. Der Pfarrer, den er dann trifft, spricht ganz unverblรผmt vom Bรถsen.

Auch wenn er eigentlich ein sehr rationaler Pfarrer ist. Aber eben einer, der weiรŸ, dass die โ€žDรคmonenโ€œ in der Regel in den Kรถpfen der Menschen sitzen. Und Menschen sich anstecken lassen, wenn โ€ždas Bรถseโ€œ auf einmal um sich greift. Aber er deutet zumindest an, dass es dabei um eine Grundfrage geht, mit der Menschen immer zu tun haben, die all ihr moralisches und amoralisches Handeln betrifft: โ€žWie ist das Gute vom Bรถsen zu unterscheiden?โ€œ

Denn wenn Menschen das nicht mehr kรถnnen, รผberschreiten sie Grenzen. Und werden zu Tรคtern. Und das hat eine Menge mit unserer Gegenwart zu tun, in der โ€ždas Bรถseโ€œ ganz offensichtlich immer mehr Raum in den Medien und den Kรถpfen einnimmt.

Und fรผr manche Menschen geradezu selbstverstรคndlich wird, und damit Gewalt und Selbstjustiz wieder legitim zu machen scheint. Eine fatale Entwicklung, die auch den Polizisten Joseph Kafka bedrรผckt. Denn wohin driftet eine Gesellschaft, in der Gewalt wieder zum gewรถhnlichen Alltag wird? So ganz รผberraschend kommen die Rรผckblenden in die NS-Zeit nicht.

Denn was wird aus eine Gesellschaft, in der Menschen nicht mehr unterscheiden kรถnnen zwischen Gut und Bรถse? Eine hรถchst aktuelle Frage, die eben auch Einsatz verlangt, wenn einer wie Joseph Kafka dem Unrecht begegnet. Weglaufen oder handeln? Eine Frage, die im Grunde diesen Krimi durchzieht. Und diesen damit mitten in eine aufgewรผhlte Gegenwart stellt.
Francis Mohr Gnadentod Paperento in der Edition Wannenbuch, Chemnitz 2025, 16 Euro.

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