Für FreikäuferEs wird Europa zerreißen. Denkt man so im ersten Moment, wenn man hört, was die Wissenschaftler zur derzeit in Leipzig stattfindenden Konferenz „Coping with uneven development in Europe“ zu den auseinanderdriftenden Regionen Europas zu sagen haben. Und dann wird man demütig. Denn alles, was die Geografen zusammentragen, erzählt davon, wie falsch wir denken. Und wie zaghaft und ungenügend die Forschung zur Demografie ist. So enttäuscht bin ich lange aus keiner Pressekonferenz gegangen.

Die hatte das Leibniz-Institut für Länderkunde (IfL), das die Konferenz ausrichtet, zu Beginn der Tagung angesetzt, um noch einmal über das kurz zu referieren, was für 3 Millionen Euro von 16 Vollzeitbeschäftigten über drei Jahre herausgefunden wurde über die zunehmend auseinanderdriftenden Regionen Europas. Die Bundestagswahl kam nur zufällig dazwischen.

Alle Wahlen der letzen Zeit haben von nichts anderem erzählt, dass immer mehr Europäer in abgehängten Regionen das Gefühl haben, dass ihre Region nicht mehr mithalten kann, dass die Post anderswo abgeht und sich die ganze wirtschaftliche Entwicklung auf die Metropolkerne konzentriert. Und dass sie da irgendwie raus müssen.

Was übrigens auch so stimmt. Alle Daten der Demografen zeigen es. Die europäische Karte ist ein Flickenteppich. Und bei jeder Landeswahl zeigt sich immer stärker der Riss zwischen Stadt und Land – zwischen weltoffenen, multikulturellen Metropolen, die von der Entwicklung profitieren (aber auch wie Rettungsinseln in der Suppe schwimmen), und von ländlichen Regionen, wo Parteien Stimmen sammeln, die das Heil wieder in einer guten, kuscheligen nationalen Rückbesinnung sehen. Motto: Grenzen dicht, raus aus der EU, Ausländer raus.

Nationalismus beginnt mit Angst. Aber auch mit dem Gefühl, das Dr. Thilo Lang, IfL-Wissenschaftler und Leiter des RegPol2-Projekts, sehr bildhaft auf den Punkt bringt. Denn die abgehängten Regionen sind Regionen, aus denen zuallererst die jungen Menschen verschwinden, um in den großen Städten ihre Chancen zu suchen. „Die Zurückgebliebenen fühlen sich allein gelassen.“

Dass das Institut für Länderkunde die Federführung für das Forschungsprojekt bekam, hat auch damit zu tun, dass man hier in Leipzig die Phänomene direkt vor der Nase hat. Man kann regelrecht zuschauen, wie die ländlichen Regionen ringsum ausbluten, wie die jungen Familien wegziehen, Schulen geschlossen werden, Supermärkte, Ärztehäuser schließen, wie die ÖPNV-Verbindungen immer dünner werden und irgendwann gekappt.

Und das ist ja nicht erst seit gestern so.

Das geht so seit über 20 Jahren. Und es wurde hingenommen wie ein Faktum. Denn irgendwann ist es ein Faktum, wenn die politischen Entscheider kapitulieren und nicht mehr gestalten. Was dann auch in der etwas verworrenen Pressekonferenz deutlich wurde. Denn Menschen entscheiden nicht aus irgendwelchen Lebensartgründen, in die große Stadt zu ziehen.

Sie entscheiden das, weil sie nur noch dort reelle Berufschancen haben, Chancen auf eine gute Ausbildung, auf verlässliche Infrastrukturen. Das sind keine weichen Fakten – auch dann nicht, wenn man nur stets auf dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) herumreitet und das mit Wachstum verwechselt.

Man könnte Wachstum ja auch anders definierten, wurde geäußert. Ist die Lebensqualität auf dem Lande nicht höher?

Stimmt. Und stimmt nicht.

Es ist schlicht Selbstbetrug, wenn man so denkt. Wenn man so tut, dass man auf Wirtschaft als primäre Größe verzichten kann. Auch wenn sich dann in der Diskussion etliches um Arbeitsplätze und Unternehmensansiedlungen in ländlichen Regionen drehte. Den ganzen Muckefuck, den auch Provinzpolitiker so gern von sich geben. Eine Stelle, an der ich das beklemmende Gefühl hatte: Die sind noch immer da im seligen Jahr 1991.

Das ist genau das Denken, das nicht funktioniert.

Denn unsere Art des Wirtschaftens ist nicht so. Da wird das Wort Neoliberalismus benutzt – und nicht mal verstanden, was das alles bedeutet und welche Macht das entwickelt. Denn dass die Lebensstrukturen in ländlichen Räumen ausgedünnt werden, hat mit neoliberalen Denkschablonen zu tun, mit Zentralisierung, Liberalisierung, Deregulierung, Effizienz, die man eigentlich „Effizienz“ schreiben müsste, weil alles Menschliche in dieser Art Wirtschaftsbetrachtung überflüssig ist. Ballast. Viel zu teures Humankapital.

Neoliberalismus ist nichts anderes als das Idealbild eines völlig deregulierten Marktes, in dem der Markt wichtiger ist als das Leben der Menschen.

Der Markt bestimmt, wer überlebt und wer nicht.

Und da hat Thilo Lang Recht: Irgendwann in den letzten Jahren hat die EU(Kommission) in aller Stille einen kompletten Richtungswechsel eingeschlagen, die viel beredete Kohäsionspolitik in der Kiste verschwinden lassen und auf knallharte Wettbewerbsfähigkeit umgeschaltet. Damit ist ein Europa der lebendigen Regionen Geschichte. Und das merken die Menschen, die in all den Regionen leben, wo das Geld scheinbar nicht mehr dazu reicht, eine Region wettbewerbsfähig zu halten.

Ostdeutschland ist dafür nur ein zahmes Beispiel, hier wirkt noch ein bisschen die föderale Solidarität.

Die osteuropäischen Länder aber haben eine Massenabwanderung erlebt, die sie über 30 Prozent der Bevölkerung gekostet hat. Der jungen, gut ausgebildeten Bevölkerung. Und vor allem der jungen Frauen. Das kennen auch die Ostdeutschen: Wo die jungen Frauen verschwinden, verschwindet die Zukunft.

Wem sagt man das?

Und das Schlimme passiert mit denen, die da geblieben sind. „Und sich rechtfertigen müssen dafür“, sagt Thilo Lang.

Denn diese Verschiebungen haben auch mit psychischen Effekten zu tun. Das neoliberale Denken produziert in allen Bereichen Sieger und Verlierer. Sorgt dafür, dass Sieger belohnt werden (und sich aufführen wie Graf Kotz) und Verlierer das stete Gefühl bekommen, nicht mehr mitspielen zu dürfen. Abgeschoben und abgehängt zu sein.

Oder noch deutlicher formuliert, weil das die Malaise der EU deutlich auf den Punkt bringt: Neoliberalismus kündigt die gesellschaftliche Solidarität auf. Er triumphiert sogar noch, wenn er reihenweise Verlierer produziert.

Deswegen gibt es derzeit keine ernst zu nehmenden solidarischen Projekte – weder auf EU- noch auf Bundesebene. Und auch keine ernsthaften Anstrengungen, Europa tatsächlich zur wettbewerbsfähigsten Region der Welt machen zu wollen. Das würde nämlich Konzepte voraussetzen, die allen Regionen gleichermaßen ermöglicht, ihre Kräfte zu entfalten und ihre Bewohner dazu zu bringen, gemeinsam die Dinge zum Bestmöglichen zu treiben. Also einen Wettbewerb um die Entfaltung menschlicher Potenziale in Gang zu setzen.

Das wäre ein anderer Wettbewerb, ein anderes Verständnis von Gemeinschaft als die derzeitige Gemeinschaft der Egoisten.

Vielleicht steht am Ende der Konferenz ein anderes Ergebnis. Aber ich glaub’s nicht. Die Fakten liegen seit Jahren auf dem Tisch. Und Dr. Tim Leibert, IfL-Wissenschaftler mit dem Forschungsschwerpunkt Demographie/Migration, machte sehr deutlich, dass die deutsche Bevölkerungsentwicklung nur auf den oberflächlichsten Blick hin gut aussieht. In Wirklichkeit werden die Zahlen durch Zuwanderung und Migration geschönt – die weder wirklich gewollt ist noch irgendwie zielführend.

Die neoliberale Denkweise sorgt auch dafür, dass Menschen ihre Lebensplanung völlig verändern. In Ostdeutschland durch einen gewaltigen Geburtenrückgang sichtbar geworden. Die deregulierte Marktwirtschaft ist grundlegend familienfeindlich.

Aber Dr. Thilo Lang sagt schon zu Recht: „Das ist ein ganz dickes Brett, das wir da bohren.“

Und das Bohren hat zu spät angefangen. Und es wird Generationen brauchen, um das in allen politischen Ebenen institutionalisierte neoliberale Denken aufzubrechen.

Vielleicht hat Emmanuel Macron Recht, der fordert, den heillosen Wettbewerb wenigstens erst einmal auf nationaler Ebene zu beenden und die Unternehmenssteuern anzugleichen. Vielleicht entscheidet sich genau hier, ob Europa sich aus dem Sumpf zieht oder krachend scheitert. Nicht in den Dörfern und ausradierten Industriegebieten. Die haben, solange selbst die großen Nationen wie die Trottel gegeneinander konkurrieren, keine Chance.

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