Musik ist gefährlich. Gerade dann, wenn es um lebenswichtige Entscheidungen geht, sollte man wohl darauf verzichten, seine Lieblingsmusik zu hören. Es könnte gewaltig in die Hose gehen, wie jetzt ein paar Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften (MPI CBS) in Leipzig herausgefunden haben. Irgendwas passiert da nämlich mit uns.

Musik berührt. Was bisher eher im übertragenen Sinne gemeint war, kann für bestimmte Musikstücke offenbar auch wörtlich genommen werden, stellten die Neurowissenschaftler vom MPI CBS fest. Wir nehmen eine Berührung anders wahr, je nachdem welche Musik in dem Moment gespielt wird. Je betörender wir die Musik empfinden, desto sinnlicher nehmen wir auch die Berührung war – selbst wenn wir wissen, dass wir statt von einem Menschen von einem Roboter berührt werden.

Da sagt jetzt bestimmt so manche gestandene Oma „Oh je! Hätte ich damals doch nur nicht den Elvis auflegen lassen!“

Manchmal haben späte Erkenntnisse einen musikalischen Grund.

Egal, ob in Lima, Liverpool oder Leipzig, Musik ist in jeder Kultur der Erde verbreitet. Wird sie dabei wohlwollend eingesetzt, kann sie ein positives Gruppengefühl erzeugen und Menschen dabei helfen, in größeren Gruppen zusammenzuleben als andere Primaten. Was ja zumindest etwas Schönes ist. Wie ihr das genau gelingt, ist bisher jedoch nicht vollständig geklärt.

„Wir haben beobachtet, dass wir Berührungen umso verführerischer erleben, je betörender wir die Musik empfinden, die wir dabei hören“, erklärt Studienleiter Tom Fritz zu dem Experiment, mit dem man den Effekt nun nachgewiesen hat.

Zu dieser Erkenntnis gelangten die Neurowissenschaftler mit Hilfe von inkognito-Berührungen. Dabei ließen sie Studienteilnehmer ihren Unterarm durch einen Vorhang strecken und dahinter mit einer genau kontrollierten Bewegung durch einen Pinselroboter streicheln. Gleichzeitig hörten die Teilnehmer verschiedene Musikstücke, die sie hinterher selbst auf einer Skala zwischen „überhaupt nicht sexy“ bis „extrem sexy“ eingeordnet hatten.

Sexy Musik?

Ist wahrscheinlich Ansichtssache.

Das Interessante aus Sicht der Wissenschaftler dabei: Selbst als die Probanden vor dem Experiment erfuhren, dass sie nicht von einem echten Menschen, sondern von einem Roboter gestreichelt werden, beeinflusste die Musik, wie sexy die Berührung wahrgenommen wurde. Dieser Roboter, ein automatisch gesteuerter Pinsel, sollte zum einen die Berührung in ihrer Länge und Intensität kontrollieren. Gleichzeitig konnte dessen Einsatz auch zeigen, dass die beobachteten sogenannten Transfereffekte von Musik auf Berührung auf sehr basalen Mechanismen beruhen müssen – und nicht etwa auf der Vorstellung von einer Person eines bestimmten Geschlechts und Attraktivitätslevels, die der gleichen verführerischen Musik lauscht, berührt zu werden.

Basal bedeutet dabei: Es hat mit tieferen, grundlegenden Gefühlsschichten zu tun. Musik berührt eine ganz elementare Gefühlswelt. Wenn sie gut ist. Oder „sexy“, wie die Wissenschaftler sagen.

„Musik scheint unsere Wahrnehmung von mechanischen Berührungsreizen zu verändern. Bestimmte Merkmale der Musik scheinen sich also auf den Berührungsreiz zu übertragen“, meint Fritz.

Eine mögliche Erklärung könnte sein, dass der emotionale Ausdruck einzelner musikalischer Klänge der gleichen Dynamik folgt wie der einer Berührung. Ein trauriger Klang wird somit in Bezug auf ihren Rhythmus ähnlich verarbeitet wie eine traurige Berührung, ein aggressiver entsprechend wie eine aggressive Berührung. Dementsprechend greifen wir zur genaueren Verarbeitung von Musik auf Bereiche im Gehirn zu, die sowohl für Berührung als auch Bewegung zuständig sind. Das Gehirn sortiert sie also ähnlich ein. Was mit der Art unseres Gehirns zu tun hat, Sinneswahrnehmungen zu sortieren. Sie setzen immer ganze Erregungswolken in den Synapsen in Gang, erzeugen Bilder, Stimmungen und Gefühle.

Solche Transfereffekte, bei denen sich Sinneswahrnehmungen verändern, je nachdem welcher Musik wir gerade lauschen, wurden auch bereits für andere Bereiche festgestellt. So entscheiden wir uns etwa für sattere, leuchtendere Farben, je lauter die Musik ist, der wir gerade ausgesetzt sind.

„Unsere Ergebnisse verdeutlichen auch, welche evolutionäre Bedeutung Musik als soziale Technologie hat“, erklärt der Neurowissenschaftler. Indem sie je nach Musikstück unsere Interpretation von Berührung und anderen Sinneseindrücken beeinflusst, lenkt sie auch unser Verhalten in Gruppen und damit letztlich sogar potenziell unsere sexuelle Selektion und unsere Fortpflanzung.

Die Erkenntnisse widersprechen damit der Hypothese des bekannten Kognitionswissenschaftlers Steven Pinker, nach der Musik nur ein „auditory cheesecake“ sei, also ein angenehmes Dessert, das aber aus evolutionärer Sicht von geringer Bedeutung und nicht mehr als ein Nebenprodukt von Sprache sei.

In Wirklichkeit löst sie ganze Emotionswolken aus, bei „sexy“ Melodien dann auch noch positiv konnotiert. Was wohl nicht nur unser Gruppenempfinden beeinflusst, sondern auch das in Zweisamkeit, wie es aussieht. Sofern beide die Musik „sexy“ finden. Und wenn nicht?

Dann sollte man vielleicht weitersuchen, bis man jemanden trifft, der Elvis mag. Oder Schubert. In der Hoffnung, es ist nicht nur ein freundlicher Roboter.

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