Das Schulsterben auf dem Land geht weiter. Trotz des gefeierten "Schulschließungsmoratoriums". Trotz der Placebo-Politik des sächsischen Kultusministeriums. Am 2. Juni hatte ja Kultusministerin Brunhild Kurt (CDU) eingeladen, um offiziell ihren "Leitfaden für jahrgangsübergreifenden Unterricht" vorzustellen. Das neue Angebot, die Malaise auf dem Land zu lösen, ist ja eine alte Idee: altersgemischte Klassen.

Wäre die Idee umgesetzt worden in einer Zeit, in der Sachsen genug Lehrer hat und Schulexperimente befürwortet, das Staunen der Welt wäre der Ministerin sicher gewesen. Doch auch ihr Werbeauftritt konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es keineswegs um neue Formen des gemeinsamen Lernens geht, sondern um das Kaschieren der Tatsache, dass einerseits die Lehrer fehlen und anderseits die Schulschließungen auf dem Land nicht wirklich beendet sind.

Lothar Bienst, der bildungspolitische Sprecher der CDU-Landtagsfraktion, versuchte es wieder als neue bunte Feder am Hut einer experimentierfreudigen CDU zu verkaufen: “Ich freue mich, dass nach dem Antrag der Koalitionsfraktionen im Landtag und dem Konzept der Staatsregierung heute ein weiterer Schritt zur Sicherung von Schulen im ländlichen Raum gegangen wurde. Mit dem Leitfaden zum jahrgangsübergreifenden Unterricht demonstriert der Freistaat einmal mehr, wie ernst und wichtig es ihm ist, auch künftig keine Schulen auf dem Land zu schließen. Gerade der jahrgangsübergreifende Unterricht an den kleineren Grundschulen außerhalb der Ballungsräume ist aus meiner Sicht ein sehr geeignetes Instrument, um eine gute schulische Bildung im ländlichen Raum zu sichern.

Natürlich sollte der jahrgangsübergreifende Unterricht nur im Ausnahmefall erfolgen – also nur dort, wo Grundschulstandorte gefährdet sind. Dafür ist es aber dringend notwendig, dass sich die Lehrer vor Ort darauf einlassen und aktiv mitwirken. Der heute vorgestellte Leitfaden kann sicher dazu beitragen. Aber auch die Politik muss in den kommenden Monaten weiter ihre Hausaufgaben machen. Eine der ersten Aufgaben für das Parlament in der kommenden Legislaturperiode wird die Änderung des Schulgesetzes sein. Bis dahin müssen wir am von der CDU-Fraktion getragenen Status quo festhalten und einen Mitwirkungsentzug wegen zu geringer Schülerzahlen für Grund- und Oberschulen außer Kraft setzen.”

Aber diese Melodie erklingt nun seit sieben Jahren. Dr. Eva-Maria Stange, bildungspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion im Sächsischen Landtag, glaubt den schönen Worten nicht mehr: “Das von der Kultusministerin gelobte Schulschließungsmoratorium ist keine Lösung gegen ein weiteres Schulsterben. Grundlage für die Schulschließungen, Klassenzusammenlegungen und das Aussetzen ganzer Klassenstufen ist einzig und allein das Schulgesetz. Eine politische Willenserklärung – Moratorium – kann das Gesetz nicht auf Dauer ignorieren. Das CDU-regierte Kultusministerium kündigt seit 2007 das Ende der Schulschließungen an. Eine Änderung des Schulgesetzes hat es allerdings nie gegeben. Somit muss jede Grundschule, die nicht 15 Schüler einschult und jede Mittelschule, die nicht mindestens 40 Schüler in Klasse 5 zusammenbringt mit einer Teil- oder vollständigen Schließung rechnen.”

Die Moratoriums-Galgenfrist bringe keine dauerhafte Sicherheit, denn sie ende mit dem Ende der Regierungszeit am 31. August 2014, stellt Stange fest. “Was dann wird, verrät uns das Ministerium und die regierende CDU leider nicht. Die SPD fordert seit 2007 ein Ende des Schulsterbens und eine Novellierung des Schulgesetzes, damit die Schulen und ihre Träger Sicherheit bekommen. Wer investiert schon in eine Schule, die übermorgen auf der Schließliste steht?”

Und Schulen sind das eine, Lehrer das andere. Und das Lehrerproblem hat sich die ganze Zeit über nur verschärft. Äußerungen wie die von Jens Michel, finanzpolitischer Sprecher der CDU-Landtagsfraktion, am 5. Juni getätigt, deuten sogar darauf hin, dass die CDU ihre Kürzungspolitik im Bildungsbereich auch nach dem August weiterführen wird.
“Die Zahl der Landesbediensteten letztlich im Status quo halten zu wollen, ist keine konstruktive Antwort auf die Zukunftsherausforderungen. Laut mittelfristiger Finanzplanung der Staatsregierung hat der Freistaat ohne den Bildungsbereich eine Personalausstattung von 12,11 Einheiten auf 1.000 Einwohnern, während der entsprechende Wert der westlichen Flächenländer sich auf 9,38 beläuft”, sagte er.

Dass die von Finanzminister Georg Unland 2010 vorgelegte Finanzplanung von einer völlig falschen Bevölkerungsprognose ausgeht, verschwieg Michel bei der Gelegenheit. Nach Unlands Zahlen, mit denen er seit 2010 alle Personalkürzungen im Freistaat begründet, hätte Sachsen 2013 wieder 26.500 Einwohner verlieren müssen. Tatsächlich waren es 4.085. Die Abwanderung aus dem Freistaat ist drastisch zurückgegangen. Aber es wird weiter drauflosgeholzt. Sowohl Michels Äußerung als auch Unlands Finanzplanung zeugen von der gelebten Wirklichkeitsverweigerung der regierenden CDU. Die Folgen spüren die Sachsen mittlerweile auf allen Ebenen.

Bis in die Schulen hinein, wo die Lehrerentwicklung einem fiktiven Bevölkerungsverlust entspricht, die tatsächlichen Schülerzahlen aber schlicht ignoriert werden. Und auch das jetzt von Brunhild Kurth vorgelegte Projekt braucht mehr Lehrer.

“Ohne zusätzliche Lehrkräfte wird das allerdings nicht zu machen sein”, sagt Eva-Maria Stange. “Die CDU/FDP-Koalition ist unehrlich, wenn sie zwar kleine Schulen auf dem Lande verspricht, aber nicht eine zusätzliche Lehrkraft dafür zur Verfügung stellt. Das geht zu Lasten der Schulen in den Großstädten, die schon heute zu viele Schüler pro Klasse und zu wenig Lehrkräfte für die wachsende Schülerzahl haben. – Auch altersgemischte Klassen, wie sie jetzt auch von der Kultusministerin angekündigt werden, lassen sich nur mit zusätzlichen Grundschullehrkräften realisieren. Nach mehr als 20 Jahren hat nun endlich auch das Kultusministerium erkannt, dass altersgemischte Klassen sinnvoll sein können. Die SPD hat das bereits in den 90er Jahren vorgeschlagen, da wurde es vom damaligen Kultusminister Rößler noch strikt als Rückkehr zur Ein-Klassen-Schule der Nachkriegsjahre abgelehnt. Längst ist altersgemischtes Lernen ein gängiges methodisches Konzept in vielen Ländern und nicht nur zum Erhalt kleiner Schulstandorte.”

Ein bisschen an den Weihnachtsmann glaubt zumindest noch der LandesSchülerRat Sachsen. “Besonders Schulen auf dem Land sollen profitieren. Dabei sind die konkreten Formalien bearbeitet, wie diese Form der Beschulung durchzuführen sei”, interpretiert er das neue Kurth-Papier. “Der LandesSchülerRat Sachsen begrüßt diesen Schritt. Doch für Einzelfälle kann das bereits zu spät sein.”

Wie es schon längst aussieht in den Landkreisen, beschreibt der LandesSchülerRat so: “Schon lange stehen besonders Grundschulen auf dem Land vor dem Problem, jedes Jahr 15 neue Erstklässler zu gewinnen. Wenn das nicht gelingt, müssen Schüler umverteilt werden. Lange Fahrzeiten im ausgedünnten Nahverkehr sind die Folge. Doch nicht nur weite Busstrecken für Sechsjährige sind ein Problem. Auch die Orte selbst leiden darunter. Wenn die Ortsteile der weit gefassten Gemeinden ihre Schulen verlieren, verliert man an Attraktivität. Ein sozialer Mittelpunkt der Gemeinde entfällt. Auch wegen der pädagogischen Vorteile die eine kleine, jahrgangsübergreifende Klasse bietet, braucht es nun endlich diese Option für die ländlichen Regionen.”

Der LSR-Vorsitzende Patrick Tanzer dazu: “Viel zu lange hat man gewartet! Gerade in meiner Region sterben die Schulen aus. Man hätte viel früher versuchen müssen mit solchen Maßnahmen die Schulen zu erhalten, als nur auf ein Schulschließungs-Moratorium zu setzen. Doch besser spät als nie, sollte man meinen. Jetzt bewegt sich etwas und wir können weiter an gemeinsamen Lösungen feilen.”

Für Cornelia Falken, die bildungspolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke im Landtag, ist das von Kurth vorgestellte Projekt noch nicht mal ansatzweise reif für eine Umsetzung: “Wieder einmal stehen Wahlen bevor und die Kultusministerin versucht es mit einem Wahlgeschenk an die Bevölkerung im ländlichen Raum. Schon zur Bundestagswahl im September 2013 hatte sie ein ‘Maßnahmenpaket’ für den Erhalt von Schulen im ländlichen Raum angekündigt. Ein dreiviertel Jahr später greift sie eine Maßnahme aus dem Paket heraus, den jahrgangsübergreifenden Unterricht, und macht Schülern und Eltern Hoffnung auf den Erhalt ihrer Schule. Mit Hilfe altersgemischter Klassen soll die Existenz von Grundschulen im ländlichen Raum gesichert werden. Das ist eine trügerische Hoffnung.”

Es wird also keineswegs im Herbst losgehen, wie der Jubel aus dem Ministerium vermuten lässt.

Cornelia Falken: “Die Ministerin schränkt selbst ein, es handele sich um einen ‘formellen Beginn’. Tatsächlich wird es altersgemischten Unterricht frühestens ab dem übernächsten Schuljahr 2015/ 2016 geben. Sowohl das Erarbeiten eines entsprechenden pädagogischen Konzeptes durch die Schule und dessen Beschlussfassung als auch das Genehmigungsverfahren beim Kultusministerium beanspruchen viel Zeit. Zwar verspricht die Ministerin, das Moratorium für das Schließen von Schulen, garantiere den Fortbestand der Schulen. Das ist jedoch keineswegs der Fall. Denn weder der neue Landtag noch die neue Staatsregierung sind an das Landtagsvotum aus dieser Legislaturperiode gebunden. Rechtssicherheit für gefährdete Schulen gibt es also keine.”

Nicht mal das Schulgesetz müsste geändert werden, um jahrgangsübergreifend zu unterrichten.

“Und warum haben Schulen bislang vom jahrgangsübergreifenden Unterricht kaum Gebrauch gemacht, obwohl er im Schulgesetz steht?”, fragt Cornelia Falken. “Das hat mit den Rahmenbedingungen zu tun, über die die Ministerin nichts Konkretes zu sagen weiß. Weder kann sie sagen, wie viele Schulen altersgemischten Unterricht einführen möchten, obwohl das Kultusministerium Ende April schon die Schulen abgefragt hat, noch vermag sie die zusätzlichen Lehrkräfte zu nennen, die für das anspruchsvolle pädagogische Konzept benötigt werden. Fünf Lehrerstunden pro jahrgangsgemischter Klasse sind jedenfalls viel zu wenig. Schulen in freier Trägerschaft setzen in solchen Fällen zwei Lehrkräfte ein.”

Es ist also dieselbe Augenwischerei wie das von CDU und FDP verkündete “Schulschließungsmoratorium”: So lange die Staatsregierung keine belastbare Schulstrategie für den ländlichen Raum hat, wird das Schließen von Schulen, die die Mindestaufnahmezahl nicht schaffen, munter weiter gehen.

Die Linke, so Cornelia Falken, rate den Schulen, sich nicht vom Kultusministerium unter Druck setzen zu lassen. “Auf die Ankündigungen der Kultusministerin kann man sich im Zweifelsfall nicht berufen. Rechtssicherheit wäre längst gegeben, wenn die Koalition dem Schulstandortsicherungs-Gesetzentwurf der Linken zugestimmt hätte.” Kann sie aber nicht, denn die Linken wollen ja das gegenwärtige Bildungspersonal erhalten – die CDU will es noch um 23 Prozent kürzen, wenn man die Zahlenspielerei von Jens Michel richtig interpretiert.
Die Mittelfristige Finanzplanung als PDF zum download.

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