Seit Neuerem wird ja im Schatten neu aufkeimender rechtsnationaler Tendenzen in Europa auch in Sachsen gern wieder über mehr „politische Bildung“ oder wahlweise „Demokratiebildung“ in der politischen Landschaft nachgedacht. Irgendwie aufklärend, unparteiisch sollte sie sein, für alle verstehbar und möglichst auch an Schulen. Aber wie soll man es umsetzen? Politik an der Schule? Bei manchem Älteren schlägt da die Erinnerung an Staatsbürgerkundeunterricht durch, andere befürchten die Beeinflussung junger Köpfe mit wilden Gedanken. Vielleicht hätte Brunhild Kurth, CDU-Staatsministerin für Kultus und bislang glücklose „Herrin“ über Sachsens Lehrerschaft und Schüler, am 8. Juni ins Schiller Gymnasium kommen sollen. Man konnte gleich in mehreren Punkten dazulernen.

Lerneffekt Nummer eins: Schüler haben ein großes Interesse an aktuellen politischen Debatten und stellen gern konkrete Fragen. Und das Interesse steigt, wenn die Bildungsveranstaltung ehrlich stattfindet, nah am Alltag und man auf dem erfrischend gelassen agierenden Podium spürt, dass die Fragen der 9. bis 12.-Klässler im Saal ernst genommen werden. Als Landtagsabgeordnete Juliane Nagel (Linke), Jürgen Kasek (verspätet, Tadel im Klassenbuch, Sprecher der Grünen Sachsen), Daniele Kolbe (SPD-Bundestagsmitglied) und Achim Haas (CDU-Stadtrat) auf der Bühne der Schulaula der Schillerschule Platz gefunden haben, ist diese an einem lauen Sommerabend trotz Fastferienzeit gut bis sehr gut gefüllt.

Wer sich an die eigene Schulzeit erinnert: Es gäbe wohl angenehmere Freizeitbeschäftigungen im „Sturm und Drang“-Alter, als abgewogenen Worten versierter Politiker zu lauschen. Am 8. Juni kann man hier jedoch auch lernen: Vorurteile gegenüber jungen Menschen werden auch nicht besser, wenn man sie ständig wiederholt, bis zum Schluss verlässt fast niemand den Raum. Die Schüler der Schillerschule werden zwei Stunden zuhören, nachfragen, fokussiert dranbleiben. Und das Podium wird engagiert mitgehen.

Man wird dem in der Vorstellungsrunde gemeinsam geäußerten Anspruch, Politiker sei Berufung, nicht Beruf gemeinsam gerecht.

Thematischer Dreh- und Angelpunkt der abendlichen Versammlung im südlichen Gohlis: „Extremismus. Links, rechts – alles gleich?“. Eine Fragestellung, die sich schnell in eine Ursachensuche erweitert, bei Gewaltausübung an sich verharrt, fehlende Polizisten und Lehrer in Sachsen thematisiert und – fast zu spät am Abend – in Flüchtlingspolitik, postkoloniale Ökonomie und Demokratieverteidigung in Europa mündet. Ab Stunde zwei beharrlich vorangetrieben durch das nachfragende Publikum.

All dies initiiert durch einen Lehrer, den sich am Ende des Abends nicht nur die Politiker auf dem Podium auch an anderen Leipziger Schulen wünschen dürften. Vorbereitet, ausgeruht und flott geht Deutsch- & Geschichts-Lehrer Jens-Uwe Jopp erst in die Podiumsdebatte und anschließend in die Fragerunde mit den Schülern.

Die erste Runde im Audio: Vorstellung und Podiumsdebatte im Schiller Gymnasium

Politik aus der persönlichen Sicht erklärt

Teil eins des Abends entwickelt sich für Politikprofis in einen erwartbaren Schlagabtausch. Achim Haas wirft CDU-gewohnt linken und rechten Extremismus rasch in einen Topf, was Daniela Kolbe so nicht gelten lassen will. Immerhin müssen es dieses Mal nicht Juliane Nagel und Jürgen Kasek allein übernehmen, der sachsentypisch konservativen Gleichsetzung neofaschistischer Tendenzen, rassistische Ausgrenzung und Menschenfeindlichkeit mit dem Widerstand dagegen vor den Augen des Publikums entgegenzutreten. Ein Hauch von Leipziger Rot-Rot-Grün weht über die Bühne.

Alle verwahren sich gegen Gewalt an sich, doch rasch ist klar, dass die CDU an diesem Abend in vielem eine Minderheitenmeinung vertritt. Vielleicht, weil die AfD fehlt, Achim Haas zumindest stellt fest, dass dies so ist. Und dass jemand, der Gewalt ausübt, nicht mehr sein Freund sei – man müsse solche Menschen in Gruppen isolieren. Er wird jede Menge Nachfragen der Schüler dafür ernten.

Eines fällt den ganzen Abend über angenehm auf. Alle Wortbeiträge sind erfrischend persönlich. Zum Beispiel wenn Juliane Nagel von ihren Demonstrationserfahrungen, eigenen Krisen und der Herabwürdigung durch Polizeibeamte, sowie der Angst mancher Demonstrationsteilnehmer berichtet. Und so zumindest nachvollziehbar macht, warum nicht jeder linke Demonstrant immer in der pazifistischen Duldungsstarre verharrt, wenn dem nicht immer so gut wie gewünscht ausgebildeten Beamten seinerseits der Einsatz-Dienst etwas misslingt.

Oder Jürgen Kasek von Demonstrations-Fahrten nach Bautzen und Aug-in-Aug-Situationen mit laxen Beamtenhaltungen und Aggressionsschüben Rechtsextremer erzählt. Ohne Verurteilung übrigens – beide, er und Nagel seien nicht grundlos neulich beim Tag der Bundespolizei in Leipzig gewesen – mal reden. Und er vergisst die Analyse zu einem in unzähligen Bereichen niedergesparten Bundesland nicht zu erwähnen, welche alle auf dem Podium – ja, auch der CDU-Vertreter mit „Wir haben Fehler gemacht“ – teilen.

Auch Daniela Kolbe war oft auf der Straße dabei und zeigt sich mittlerweile, Mutter geworden, durchaus ein wenig abgeschreckt von der zunehmenden Gewalt. Wie man sich noch – zumal mit Kindern – friedlich an Protesten beteiligen soll, so ihre Frage, die Moderator Jopp zur Frage bringt, was an abgetretenen Papierkörben auf der Karli so widerständig sei – nichts natürlich, außer Aggressionsabbau so das Fazit.

Die zugespitzte Schlusspointe Kaseks zur Frage „Wo sind die Beamten hin?“ und dem Wunsch aller nach gut ausgebildeten Beamten folgerichtig. „In Bautzen gibt es auf 200 Quadratkilometer 152 Polizisten. Wenn man da eine Bank überfällt, kommt keiner mehr.“ Rasch weitet sich hier der Horizont auch auf den Bildungsbereich – Lehrer fehlen letztlich noch mehr im schönen Freistaat, denn wo Bildung ist, findet Extremismus wenig fruchtbare Kleingartenerde.

Die persönliche Geschichte auch dazu: Ein Freund Kaseks, Gymnasial-Lehrer, der nun Leipzig gen Rheinland-Pfalz verlassen hat. Hier gab’s einen Posten als Grundschullehrer und wenig Gehalt – dort die Traumposition und Geld. Da fiel die Entscheidung zwar schwer, aber fiel folgerichtig gegen das schöne Leipzig aus. Wieder einer mehr, der nicht länger auf einen wirklichen Wandel in der Bildungspolitik Sachsens warten wollte.

Runde zwei: Fragen aus dem Publikum? Ja …

Berichte, bei denen Achim Haas für die CDU nicht richtig mithalten kann. Nicht grundlos muss sich der Stadtrat anhören, dass gerade die Leipziger CDU bei den Gegendemonstrationen zu Legida regelmäßig fehlte. Verstehbar auch, dass für junge Ohren in der Schillerschule ein Friedensgebet der CDU-Vertreter gegen Legida weniger schlüssig klingt, als sich auf der Straße über Monate bei Wind und Wetter lautstark gegen Rassismus und Menschenfeindlichkeit zu stellen.

Jovialität kommt bei den jungen Menschen auch nicht so richtig an, doch das nochmalige, ehrliche Eingeständnis von Haas, die CDU habe in den vergangenen Jahren zu wenig Geld in mehr Lehrer und Polizeibeamte investiert, schon eher. Klartext nun auch bei der CDU (zumindest in Leipzig): Die 1.000 Beamte, die jetzt neu in Sachsen eingestellt werden sollen, fangen gerade mal die Kollegen ab, die in Pension gehen. Und es wird noch etwas dauern, bis die alle ausgebildet sind.

Konkrete Handlungsweisen

Wie soll man mit Extremismus oder Radikalisierungen im direkten Umfeld eigentlich umgehen? Achim Haas kommt mit seiner Abgrenzungstheorie auf Nachfragen hin ins Schwimmen. Ist es mit der Ausgrenzung eines gewaltbereiten Freundes gelöst? Was kommt danach? Wegsperren?

Juliane Nagel freut sich über den zugewandten, pädagogischeren Ansatz der jungen Nachfrager, die darauf beharren, statt Ausgrenzung das umgehende Gespräch zu suchen, während Haas nur noch bleibt, auf seine persönliche Haltung bei dem Thema zu verweisen. Die nicht so ganz zum anderen Mantra des CDU-Stadtrats „Ich rede mit jedem“ passen möchte. Auch das fällt an diesem Abend auf. Wo gestandene Männer und Frauen gern mal laut werden und eigene Vorurteile ventilieren, fragen die Schüler beharrlich und freundlich nach.

So lange, bis der Widerspruch zwischen der einhelligen Gewaltablehnung in Leipzig und der politisch gewollten Gewalt (auch hier die CDU am Pranger) gegenüber toten Flüchtlingen am und im Mittelmeer greifbar im Raum steht. Die ganz große Frage unserer Zeit also gegen Ende, angestoßen von den Schülern, während Lehrer Jopp sich schon langsam in die Freudeposition eines gelungenen Versuches begeben kann.

Friedrich Schiller wacht über die Aula. Foto: L-IZ.de
Friedrich Schiller wacht über die Aula. Foto: L-IZ.de

Und ein Husarenritt als Antwort von Kasek, der fortgeschrittenen Zeit geschuldet, rasant vorgetragen. Da kein Flüchtling auf der Welt gern flieht, bleibt nur die Frage, warum sie es dennoch tun. Es liegt an uns, so Kasek, die Fluchtgründe zu beseitigen. Von Hunger über Waffenexporte, folgenden Kriegen, Klimakatastrophen in der sogenannten Dritten Welt, bis hin zur Umorientierung der europäischen Agrarindustrie, weg von Billigexporten nach Afrika und der nachhaltigen Stützung der Wirtschaft dort reicht die Palette. Und Juliane Nagel assistiert, dass man eben über eine neoliberale Wirtschaftspolitik reden müsse, die all dies befördert.

Ohne den Willen der Europäer abzugeben, wird es wohl nicht gehen. Entweder tun sie es gleich oder später, wenn sich immer mehr auf den Weg machen werden. Fast konnte man den Eindruck haben, der Schiller im hinteren Saalfenster hätte an mehreren Stellen des Abends kurz anerkennend geblinzelt.

Und was hat der Journalist gelernt?

Man kann sich auch in Wahlkampfzeiten streiten, ohne in Schablonen zu landen. Junge Menschen sind nicht unpolitisch und wissen eine Diskussion so zu führen, dass sich manch Erwachsener mal zum Lernen dazusetzen sollte. Selbst zwei Stunden genügen nicht, den Fragen von Schülern wirklich gerecht werden zu können, was vor der Tür erste Diskussionen zu möglichen Fortsetzungen des Formats ergab. Mancher traute sich noch nicht so richtig und hätte weitere Fragen gehabt.

Fazit: Das sollte man nochmals machen und nicht nur am Schiller Gymnasium. Ganz egal, wann sich die Landespolitik in Sachsen (in ein paar Jahren wohl) entschieden hat, was man nun unter politischer Bildung verstehen möchte. Eigentlich braucht es „nur“ einen Lehrer mit Haltung, rund 20 Stunden Vorbereitungszeit und einen Schulleiter, der zweimal nickt. Am Anfang der Vorbereitungen und anerkennend nach der Veranstaltung, so wie im Schiller Gymnasium.

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