Es ist schon erstaunlich, zu welcher schonungslosen Bilanz die Leipziger Sozialpsychologen kommen, wenn sie die Rolle der Medien innerhalb des gesellschaftlichen Diskurses beschreiben: "Die inzwischen allgegenwärtigen Bildschirme sind das wirkmächtige Medium der Beschleunigung der Gesellschaft. Hier zeigt sich der Strukturwandel der Öffentlichkeit: politische Auseinandersetzung ist dem Werbekanal gewichen."

“Demokratie findet mittlerweile ohne die meisten Menschen statt. Die politische Teilhabe über Wahlen hinaus ist beunruhigend wenig ausgeprägt und die öffentliche Teilnahme gering”, stellt der Leipziger Politologe Johannes Kiess fest.

Die Untersuchung der Mediennutzung ist ein Teil der von den Leipziger Forschern vorgelegten Untersuchung “Rechtsextremismus der Mitte – Eine soziopsychologische Gegenwartsdiagnose”. Darin wird nicht nur die psycho-soziale Herkunft von rechtsextremen Einstellungen untersucht, sondern auch die Verortung solcher Einstellungen in den unterschiedlichen Schichten der Gesellschaft.

Und natürlich die Frage: Wie bildet sich das dann im demokratischen Diskurs ab? Gibt es überhaupt einen? Und wer nimmt daran wie teil?

“Wer Demokratie sagt, meint in der Regel Partizipation”, sagt Kiess.

Doch unübersehbar ist auch, dass nur eine Minderheit tatsächlich politisch engagiert ist – sich in Vereinen oder auch Parteien engagiert, an Demonstrationen und Kundgebungen teilnimmt oder sich auch mal zur Wahl aufstellen lässt. Etwas mehr Bürger nehmen an Wahlen teil. Doch der größte Teil hat zur Demokratie ein passives, eher konsumtives Verhältnis, lässt sich die politischen Diskussionen aus dritter Hand via Fernseher in die Wohnung bringen.

Zwar feiern diverse Werbeagenturen nun seit über zehn Jahren das Märchen von den “social media” und reden Werbekunden, Medienmachern und Bürgern ein, die neuen digitalen Kommunikationsinstrumente würden neue Formen eines demokratischen Diskurses ermöglichen. Diese “Netzwerke” seien eine Art moderne Agora und alle könnten sich nun einbringen in die gesellschaftliche Diskussion.

Doch die gigantischen Zahlen, die Facebook, Twitter, Youtube & Co. vermelden, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Märchen nichts als ein Märchen geblieben ist. Auch die Piratenpartei, die von allen politischen Initiativen diesen Traum am vehementesten gelebt hat, musste mittlerweile lernen, dass es wieder mal ein auf technische Lösungen gebauter Glaube war, der nicht hält, was man versprach. Was den klassischen Parteien schon aus dem realen Leben bekannt war, erlebten die Piraten im Internet binnen kürzester Zeit mit voller Wucht.

Gleich nach dem Hype, der die Piratenpartei kurzfristig zum Hoffnungsträger einer neuen, unverbrauchten Politik machte, stürzten die Vorkämpfer einer freien Informationsgesellschaft in die Hölle einer immer wilder geführten Diskussion um Posten, Meinungen und Personen. Und siehe da: Am lautesten bestimmten jene die Diskussion, die nicht wirklich Inhaltliches beizusteuern hatten, sondern die neue “Agora” als geeignete Bühne für persönliche Fehden und rüde Pöbeleien benutzten. Die eigentlich geplante programmatische Diskussion – die immer eine qualifizierte sein muss – ging im öffentlichen Streit unter.

Wenn die Piraten zum aktuellen Zeitpunkt etwas gelernt haben dürften, dann ist es das Wissen darum, dass demokratische Diskussionen qualifiziertes Wissen brauchen und eine professionelle Moderation. Oder noch deutlicher: Demokratische Politik geht ohne professionelle Politiker nicht.

Leider, könnte man sagen.

Aber jeder, der sich tatsächlich mit der Komplexität einer modernen Gesellschaft beschäftigt, weiß, dass dieser Apparat von Amateuren nicht gesteuert werden kann.Aber wer beschäftigt sich mit der Komplexität? Und wie wird der Bürger zum qualifizierten Demokraten? Wie lassen sich repräsentative und direkte Demokratie organisieren?

Stichwort: Liquid Democracy. Darüber wird viel diskutiert. Gerade weil die so genannten “social media” hier den Stein der Weisen versprachen. Aber der Lack ist ab. Gerade die “social media” haben sich als Nischen-Produzenten erwiesen. Die Millionen Nutzer verlieren sich in tausenden Gruppen von “special interests”, manche merken nicht einmal mehr, dass ihre Informationen gefiltert werden und sie nur noch erfahren, was die großen Betreiber der Netzwerke für richtig halten. Oder deren Algorithmen zulassen.

Und wenn schon Diskussionen entstehen, passiert zumeist das, was die Piraten so schmerzlich erfahren haben: Die Kampfhähne ergreifen das Wort, es wird gegiftet, gepöbelt, gemotzt und gebolzt. Jede qualifizierte Diskussion wird torpediert. Was dann in der Regel schnell dazu führt, dass die wirklich am Diskurs Interessierten sich schnell wieder aus diesem Toben zurückziehen.

Ergebnis: Genau da, wo alle Propheten die neue demokratische Diskussion versprachen, passiert sie nicht. Und noch ein Effekt verblüfft die Forscher: Die jungen Wilden, die sich fast ausschließlich in den neuen Medien tummeln, werden politisch so gut wie nie aktiv. Sie nehmen die digitalen Gefechte für schon gelebte Demokratie. Sie sind hoch gebildet, stehen aber in der Regel noch vor der Gründung einer sicheren Existenz. “Junge Prekäre”, nennen die Leipziger Forscher diese Gruppe, die dann zwangsläufig im politischen Leben keine Rolle spielt.

Dort geben andere den Ton an, jene, die gelernt haben, dass man sich auch engagieren muss, wenn man etwas verändern will. Was übrigens bei jeder Wahl ablesbar ist: Mit dem Alter steigt die Wahlbeteiligung als niedrigste Stufe politischer Betätigung. Und die höchste Wahlbeteiligung haben die älteren Jahrgänge. Mit ihrer konservativeren Weltsicht und ihrem konservativeren Medienverhalten. Sie informieren sich fast ausschließlich über das, was die Forscher “Alte Medien” nennen: gedruckte Zeitungen, Fernsehen, Radio.

Auch deshalb gibt es den spürbaren Dissens bei der Finanzierung des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks vor allem bei den jungen Bevölkerungsgruppen – sie fühlen sich vom Fernsehprogramm, das vor allem auf eine Zuschauergruppe 60+ zugeschnitten ist, nicht angesprochen – und deshalb auch zu Unrecht abkassiert.

“Alte Autoritäre” haben die Leipziger Forscher jene Gruppe älterer Mediennutzer genannt, die aus den “Alten Medien” ihre Informationen holen und dann auch politisch handeln. Sie melden sich in jeder Diskussion zu Wort und bringen ihre Interessen zur Geltung. Und sei’s mit dem Wahlschein.

Ist natürlich die Frage: Welche Rolle spielen dann neue Medien überhaupt, wenn doch die alten augenscheinlich die Musik machen?

“Die Teilnahme am Geschehen stützt sich nach wie vor auf die Alten Medien wie Zeitungen und Rundfunk, während der Anteil der Neuen Medien verhältnismäßig klein ausfällt. Liegt politisches Engagement vor, spielen die Neuen Medien bei den Befragten eine nachgeordnete Rolle”, fassen die Leipziger Forscher zusammen. “Die Untersuchungsgruppe der so genannten jungen Prekären (geringes Einkommen oder arbeitslos, aber höherer Bildungsabschluss) nutzt die Neuen Medien am intensivsten, ist politisch jedoch inaktiv. Sie glauben nicht, dass sie das politische Geschehen beeinflussen können. Paradoxerweise ist die Zustimmung zur Demokratie bei ihnen dennoch überdurchschnittlich hoch.”

Wer aber bringt dann die neuen Ideen in die Politik? – Es ist – wer hätte das gedacht – die “Mitte der Gesellschaft”. Ein buntes Gemisch, in dem sich allerhand Leute tummeln, die scheinbar gar nicht zusammen gehören. Mal abgesehen von denen, die hier zwar hingehören, sich aber schon als Abgehängte empfinden – auch weil sie sich den neuen Medien verweigern und nur die alten konsumieren. Aber auch die “Informierte Mitte” findet sich hier, all die Leute, die über alle Informationskanäle verfügen, über alles mitreden können, zu allem eine Meinung haben – aber trotzdem zu Hause bleiben, wenn Taten gefragt sind.

Etwas mehr Initiative zeigen die “Erfolgreichen Performer”, die dann zusätzlich zu dem, was sie im Beruf und im Unternehmen schon hinlegen, auch noch Zeit und Kraft haben für politisches Engagement. Erstaunlich aktiv sind auch die “Sozial Deprivierten”, was Armut in einer ganz besonderen Weise fasst: Das sind Leute, die soziale oder persönliche Verlust- oder Minderwertigkeitsgefühle durch Engagement kompensieren. Für sie wird die politische Bühne zum Ausgleich – hier können sie eine Bestätigung erfahren, die ihnen ihr Privatleben nicht bietet. Und es gibt noch die “Modernen”, die mit den “Alten Medien” wenig bis nichts zu tun haben und die “Neuen Medien” tatsächlich intensiv nutzen, um sich zu informieren, Netzwerke zu schaffen und Diskussionen zu führen.

Das ergibt dann die Melange einer Gesellschaft, die scheinbar immer wieder zu konservativen Formen tendiert, in der auch immer wieder Haltungen, die eigentlich einem rechtsextremen Weltbild zuzuordnen sind, in die geführte Diskussion und auch in praktizierte Politik vordringen. Und damit rechtsextreme oder auch nur chauvinistische Haltungen in der Bevölkerung wieder bestärken. Demokratie ist nicht nur komplex und anstrengend, sie ist auch – wenn man diese Analyse so sieht, tendenziell konservativ. Und die Analyse zeigt, wie fatal es ist, wenn sich Parteien gleich reihenweise um ein obskures Produkt wie die “Mitte” bemühen. Sie sorgen dann selbst dafür, dass sich weite Teile der Gesellschaft von ihnen nicht mehr vertreten fühlen.

Was natürlich auf eine Lösung drängt: Wie kann demokratische Partizipation mit den neuen Medien tatsächlich hergestellt oder wenigstens erleichtert werden?

Eins ist Fakt: Die “social media” sind eher Teil des Problems als der Lösung.

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