Nach der Sommerpause bekommen die Nutzer der 1. Klasse in den ICE-Zügen der Deutschen Bahn wieder Lesefutter: Dann hängt das neue "median"-Magazin dort wieder aus, das von der Metropolregion Mitteldeutschland herausgegebene "Info-Magazin für Mitteldeutschland". Das Cover zeigt ein abgelegtes Superman-Kostüm und einen viel verheißenden Titel: "V-Leute". Aber mit der verkorksten Verfassungsschutzarbeit in den drei Bundesländern hat das Heft nichts zu tun.

Hätte es haben können. Aber bis dahin, bis auch die regionale Wirtschaft begreift, dass drei intransparente Verfassungsschutzbehörden, die nicht mal eine richtige indirekte Kontrolle und schon gar keine ordentliche Berichtspflicht haben, auch für den Wirtschaftsstandort kein Aushängeschild sind, wird noch Zeit vergehen. Viel Zeit. Das hat mit Psychologie zu tun und der großen Erwartung vieler Unternehmer, staatliche Instanzen würden einfach ihre verflixte Arbeit machen und für das tägliche Handeln einen verlässlichen Rahmen aus Ordnung und Sicherheit schaffen.

Im Grunde bräuchte es neben der von Unternehmen und Kommunen getragenen Metropolregion Mitteldeutschland auch eine Art politischen Zusammenschlusses für Mitteldeutschland, der sich mit den Parametern einer modernen Politik beschäftigen würde. Und mit dem V-Faktor natürlich.

Daher kommt das Wort V-Leute, das so viel versprechend auf dem Titel steht. Aber hier steht das “V” für Vertrauen und für Verantwortung, für ein verantwortungsvolles unternehmerisches Handeln. Denn während drei Regierungen noch immer den Schlaf der Seligen schlafen und nicht wissen, wie sie mit den demografischen Verwerfungen im Dreiland umgehen sollen, ist es für Unternehmer längst Alltag. Sie müssen sich kümmern und vorsorgen und neue Unternehmensphilosophien entwickeln, sonst stehen sie eher morgen als übermorgen ohne Personal und Fachkräfte da. Beispielhaft erzählt das in diesem Heft Frank Albert, Betriebsleiter des Wellpappenwerks Lucka im Süden von Leipzig.

Während die großen Konzerne in Deutschland auch die Diskussion über den Fachkräftebedarf dominieren und ihre eigenen Bedürfnisse über all ihre Lobbyvertreter in den Parlamenten in Gesetzesform bringen, können die ganz normalen mittelständischen Unternehmer in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen nicht darauf rechnen, davon auch nur im mindesten zu profitieren. Sie können beim Wettbewerb um die Gehälter, mit denen Fachkräfte aus dem EU-Ausland angeworben werden, nicht mithalten, sie können dem Ausbildungsnachwuchs keine Goldene Ananas versprechen und sie können auch selten damit werben, das ihre lokalen Regierungen hinter ihnen stehen und die Strukturen schaffen, die junge Familien als Rückhalt brauchen.

Es braucht einen anderen Umgang mit dem eigenen Personal, wenn man es in dieser Region halten will. Und es sieht ganz danach aus, als wäre der Osten wieder einmal Pioniergebiet. Denn das, was jetzt in Mitteldeutschland passiert, wird in den nächsten Jahren auch West- und Norddeutschland beschäftigen. Und irgendwann auch die Hartleibigen im Süden, die so gern Panzer bauen. Wie stärkt man die Attraktivität eines Unternehmens und eines Standortes für Familien? Eine Frage mit vielen Facetten: Das braucht Angebote für junge Väter und Mütter, das braucht frühen Kontakt zum Nachwuchs, den man gern ausbilden möchte. Frank Albert hat begriffen, dass man damit am besten schon im Kindergarten anfängt und hilft, die Bildungskarrieren der Kinder zu befördern.

Aber es geht bei den älteren Arbeitskräften weiter – mit der vom Unternehmen finanzierten Weiterbildung und Umschulung, mit Arbeitsplatzzuschnitten auch für das Personal, das körperlich nicht mehr so fit ist. Und es geht um kluge Nachfolgeregelungen. Da werden ganz alte Unternehmertugenden auf einmal wieder sehr aktuell. Das Heft könnte natürlich viel dicker werden, wenn man das erst einmal durchdekliniert.

Sogar an der Handelshochschule Leipzig (HHL) ist das Thema angekommen. Sie hat die Grunddefinition für den “V-Faktor” geliefert: “Verantwortungsvolles Wirtschaften ist die Wertschöpfung durch vertrauensvolle Kooperation ohne Schädigung Dritter.”
Das setzt Netzwerke voraus – politische, soziale, informelle. Das braucht auch in Kommunen und Gesellschaft ein Denken auf gleicher Höhe. Einige Beispiele findet man auch im Heft. Etwa das “OLDI”-Modell aus Dessau-Roßlau, wo Senioren in die Rolle von Leih-Großeltern schlüpfen für junge Familien, deren Großeltern hunderte Kilometer weit weg wohnen. Die Verwerfungen der ostdeutschen Gesellschaft haben ja auch mit einem knallharten Wirtschaftsdenken zu tun, das Arbeitnehmer reineweg als flexible Verfügungsmasse betrachtet und ganze Familien zerrissen hat. Dem begegnen kann man nur mit Verantwortungübernehmen vor Ort – für Umwelt, für Kinder, für Ältere oder – wie Maya Christine Richter – für Sterbende.

Eine Gesellschaft, die keine verlässlichen Kooperationen hinbekommt, schafft allerorten Brüche, Fehlstellen, destruktive Strukturen.

Woran liegt es?

Vielleicht an unserem Gehirn. Der eigentliche Höhepunkt des Heftes ist gleich vorn das Interview von Kai Bieler mit dem Magdeburger Hirnforscher Prof. Dr. Frank W. Ohl. Hirnforschung ist eines der wichtigsten Forschungsthemen derzeit in Mitteldeutschland. Ohl selbst geht im Interview auf eines der dominierenden Themen der Gegenwart ein, auch wenn darüber kaum irgendwo fundiert diskutiert wird: die Freiheit. Oder das, was wir dafür halten. Dabei kommen die Magdeburger Hirnforscher durch Experimente zu einem Ergebnis, zu dem schon der englische Philosoph John Locke im 17. Jahrhundert durch reines Nachdenken kam: Willensfreiheit ist durch das Sich-Bewusstsein der Konsequenzen bedingt. Die Freiheit der Wahl hat der Mensch tatsächlich erst, wenn er die Alternativen und Konsequenzen seines Tuns kennt. Was dann bei Friedrich Hegel in den platten Spruch geronnen ist: “Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit.” Womit er ja dann bekanntlich den preußischen Staat als höchste aller Notwendigkeiten legitimierte.

Und damit die Freiheit eigentlich zum Gehorsam als Staatsbürgertugend machte.

Natürlich ist Denken determiniert. Ein Thema mit dem sich die Hirnforschung seit Jahrzehnten beschäftigt. Das Gehirn ist – wie Ohl es formuliert – ein “aktiv-interpretierendes System”. Es wertet permanent alle äußeren und alle inneren Signale aus, vergleicht sie mit eigenen Mustern, koppelt zurück in das ganze körpereigene Sensorium. Und tatsächlich passiert vor jeder Entscheidung eine messbare Aktivierung im Gehirn, an der in der Regel mehrere Areale vernetzt beteiligt sind. Dass der Mensch eine Entscheidung trifft, ist schon Millisekunden vor der Handlung messbar. Welche es dann ist, dass ist – wenn der Proband nicht durch Signale angewiesen wird, bestimmte Tätigkeiten auszuführen – nicht so leicht vorhersagbar. Auch wenn – man erinnere sich an die Experimente am Leipziger Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften – man solche Experimente durch emotional starke Signale beeinflussen kann.

Vieles, was die heutigen Hirnforscher belegen können, verweist auf unsere zum Teil chaotischen gesellschaftlichen Zustände und die wesentlichen gesellschaftlichen Interpretationsmuster. Ganze Agenturen und Thinktanks sind damit beschäftigt, gesellschaftliche Entscheidungen durch Muster zu beeinflussen. Was wieder auf das Thema Determination zurück verweist: Wie frei ist der Mensch eigentlich in seinen Entscheidungen? – Oder trifft genau das zu, was Locke und Kant gesagt haben: Dass der Mensch aus seiner Determination – also aus seiner Unmündigkeit – erst heraustritt, wenn er sich die Konsequenzen seines Tuns bewusst macht und damit – welch grausame Folge: Verantwortung übernimmt. Für sich selbst und für seine Umgebung.

Wer tut das tatsächlich?

Es ist also festzuhalten, dass die von Kant postulierte Aufgabe auch 2014 noch genau so steht. Aufklärung bedingt immer die Bereitschaft, sich vor einer Entscheidung über die Konsequenzen klar sein zu wollen. In Magdeburg beschäftigt man sich auch mit Motivationsanreizen – Belohnungen, Vermeidung von Bestrafungen. Pawlows Hunde lassen grüßen. Das kann noch spannend werden, denn die Frage ist ja uralt. “Brot und Spiele” hieß das im Alten Rom. Damit kann man Gesellschaften steuern. Übrigens auch mit Angst und Horrorszenarien.

“Das Gehirn bildet nicht 1:1 die Umwelt ab, sondern vollbringt eine ständige Konstruktionsleistung, bei der mithilfe von Kategorien die Sinneseindrücke interpretiert werden.” Das ist echte Arbeit. Auch deshalb geht der Mensch so lange in die Schule und sollte auch danach nicht aufhören zu denken. Mancher tut es doch und latscht – “Ich kann ja eh nichts ändern!” – faulen Parolen hinterher.

Ein schönes Heft. Allein schon durch das Interview eine hübsche Denkanregung.

In der Regel erscheint das “median”-Heft dann auch für alle, die eher nie in der 1. Klasse des ICE unterwegs sind, auch als PDF auf der Website der Metropolregion Mitteldeutschland unter “Publikationen”:
www.mitteldeutschland.com

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