LeserclubWir alle sehen immer nur die Oberfläche der Dinge. Das, was wir sehen dürfen. Vielleicht auch das, was wir uns zu sehen trauen. In dieser Geschichte bin ich zwar – aus der Perspektive von Kollege S. – ein naiver junger Mann, der nicht merkt, wann ihn die gewiefteren unter den in grauen Flanell gekleideten Gentleman regelrecht verarschten. Aber meine Naivität war eine andere.

Das wusste ich nur zu genau, Und deshalb war ich auch bei Don Leone am Küchentisch von Mama Primavera, Dolorosa und Furiosa gelandet, leicht aufgetankt mit mehreren Gläschen wirklich guten, schweren Rotweins. Aber …

Mir war sehr wohl bewusst, dass der Meister der italienischen Spezialitäten die ganze Zeit seine Fäden zog. Vor meinen Augen. Er wollte, dass ich ihm zusah, wie er seine große familia dirigierte, seine Bistros und Ristoranti vom Telefon aus im Griff hatte und Lucio von A nach B scheuchte, während Carmencita im Hörer ihre gepfefferte Abreibung erhielt. Und lautstark gegenhielt, während die drei jungen Burschen, deren Verwandtschaftsgrad sich wohl eher in Gefälligkeiten ausdrücken ließ als in wirklich lesbaren Kirchenbucheinträgen, ihm brav mitteilten, wie es gerade in meiner Straße stand, in der – so behauptete zumindest Leone – fünf etwas ratlose Schränke versuchten, Eindruck zu schinden.

Wie man mit 100 Kilo Muskelmasse und einem halben Möhrchen als Denkapparat nun einmal Eindruck schinden kann in diesem Land.

Dazu gehört nicht viel.

Nicht in dieser Stadt und nicht in diesem Land. Die meisten Menschen verwechseln Halsweite mit Denkvermögen.

„Lasst sie noch ein bisschen kochen“, wies Don Leone an. „Und du kommst mit.“

Und damit war ich gemeint, jetzt kurz mal in die Rolle eines braven Schoßhunds gerutscht, was Don Leone auch genau so meinte. Auch wenn er mir tausendmal erklärte, dass ich mich von ihm nicht einschüchtern lassen und nach seiner Pfeife tanzen sollte. Ich sei ja immerhin einer von den drei, vier Menschen in dieser Stadt, die er überhaupt noch ernst nehmen könnte.

„Deinen Kollegen eingeschlossen. Der kennt noch La divina commedia. Hast du auch gelesen?“

Hatte ich natürlich nicht. Ich bin nicht so der klassische Typ. Ich mag eher diese netten italienischen Western, in denen die Musik losschrammelt, wenn der einsame Cowboy durch den Staub watschelt, um auf dem Friedhof mitten in der Sierra Nevada dann mit vorwurfsvollen Blicken vor dem Grab des großen Helden stehen zu bleiben, der damals nicht auf ihn gehört hatte, damals in Cupertino. Und nun lag er da, längst Asche und Staub. Sechs Zoll Vergänglichkeit. Und ein Allerweltsname auf dem klapprigen Holzkreuz, das ein bisschen wackelte im Wüstenwind.

Es waren aber fünf Gräber. Mit fünf feinen Marmorsteinen.

Festus. Titus. Brutus. Maximus und … natürlich … Cäsar.

„Alle fünf eine Seele von Hund, wenn du verstehst, was ich meine. Magst du Hunde?“

„Antilopen mag ich eigentlich lieber.“

„Darüber macht man keine Witze.“

„Warum nicht? Du zeigst mir die fünf hübschen Grabsteine doch bestimmt nicht, damit ich nachher auch noch eine Geschichte über die Hundeliebe des allseits beliebten Don Leone schreibe?“

Er antwortete nicht. Die hier Begrabenen spielten augenscheinlich doch eine Rolle in seinem rabenschwarzen Herzen. Eine schwanzwedelnde, kläffende, tröstliche. So wie Hunde einen umtriebigen Mann trösten können, der niemandem richtig vertraute. Zumindest malte ich mir das so aus, auch wenn mich Don Leone nicht wirklich an den Lebensgeschichten seiner geliebten Vierbeiner teilhaben ließ. Nur an ihrem nicht ganz so fröhlichen Ende. Denn zwei waren an einer Vergiftung gestorben, einen hatte jemand mit einer Ladung Schrot durchsiebt, den vierten fand Herrchen mit Messerschnitten zerstückelt über den ganzen Rasen verstreut.

„Und Cäsar haben sie mir überfahren an einem wirklich gelämmerten Tag mit so einem richtigen pladderigen miesen kalten Regen … ich hab sie zu spät bemerkt … sie wollten es mir wieder Mal zeigen. Sie sind so doof wie Katzenstreu, wenn du …“

Ich schwieg ein bisschen aus Pietät. Und auch aus Benommenheit. Und auch, weil ich dachte, dass der kleine, grimmige Mann mir damit etwas erzählen wollte. So eine Art Angebot von Blutsbrüderschaft: Ich Don Leone, du Old Shatterhand, oder so. Das geb’ ich zu. Nach Mamma Mias Familienrezept war ich eigentlich so groggy wie Rocky nach seinem ersten Kampf. Wenn auch ohne Platzwunde und schiefer Nase. Die Welt summte um mich herum. Hinter den Grabsteinen raschelte es – ein paar aufgeregte Mäuse vielleicht oder ein angetüterter Igel. Und neben mir schnaufte dieser kleine, eigentlich doch so unsentimentale Mann.

„Ich bin ihnen gewaltig auf den Keks gegangen. Und sie haben alles getan, mich zu vergraulen. Sie wollten keinen kleinen, dummen Spaghettifresser in ihrem feinen kleinen Städtchen. Schon gar nicht am besten Platz …“

„Spaghettifresser. Sprechen Sie selbst so über sich?“

„Manchmal schon. Wenn ich richtig sauer bin. Aber die sprechen immer so über mich. Weißt du das nicht?“

„Aber Sie haben sich jedes Mal … stopp … klar … das war jedes Mal ein Dalmatiner neben Ihnen auf den Fotos. Stimmt doch, oder? Ich dachte immer, das sei immer derselbe.“

„So sollte es auch aussehen.“

„Und dann?“

„Dann hab ich zu Hause angerufen bei – meinem Onkel. Er sollte ein paar von unseren faulen, nichtsnutzigen Cousins schicken. Hat er mich vielleicht komisch ausgefragt, ob mein Laden nicht liefe, ob meine Küche vielleicht nicht in Ordnung sei – Du weißt ja: Als Italiener darf man sich einfach nicht blamieren. … Nein, ich brauche keine Jungs für die Küche. Und auch nicht fürs Restaurant, hab ich ihm erklärt. Lang und breit. Onkel ist ein misstrauischer Mistkerl. Ich brauchte ein paar von diesen Traumtänzern, den Nichtsnutzen, die immer mit den ragazzi rumlungern, den Alten ärgern und eigentlich zu nichts zu gebrauchen sind, du weißt schon …“

„… mit fescher Lederjacke? Aufgemotzte Vespa? Gegelte Haare und Springmesser in der Tasche?“

„War das eine Anspielung?“

„Kann sein. Mir ist jetzt noch ganz schwummerig ..“

„Jedenfalls ein paar Jungen, die sich nicht einschüchtern lassen und auch wissen, wie man sich prügelt, ohne dass einen hinterher der Rettungswagen einsammelt. Und die auch im Restaurant schick aussehen, oder als Barkeeper. Das bessert die Umsätze bei den Mädchen auf, wenn du weißt … Es ist immer gut, wenn man als junger Mensch nicht nur ein bisschen wie Diego Maradona aussieht.“

„Was dann die Anschläge auf ihre Hunde beendete …“

„Ich habe mir nie wieder einen Hund zugelegt. Irgendwann kann man das nicht mehr. Und ich glaube auch nicht, dass sie aufgehört hätten. Nicht einfach so. Diese Narren hören erst auf, wenn es richtig scheppert. Habe ich schon gesagt, dass sie eigentlich kleine, feige Würstchen sind?“

„Ich glaube, ja.“

„Sind sie bis heute. Deswegen sind sie so berechenbar. Zumindest, wenn man weiß, wie man Eindruck schindet …“

„Mit Fleiß und Leistung?“

„Sie sind ein Witzbold, mein lieber L. Davon reden die zwar gern. Aber ihre Unterhosen bügeln ihre Frauchen. Und abends gucken sie lieber drei Mal nach, ob die Haustür verriegelt ist …“

„Weil einer ihrer feschen Cousins dastehen könnte?“

„Oder Freund Igor, falls Ihnen das was sagt.“

„Sagt mir was.“

„Ich bringe meine lieben Neffen nicht in Gefahr, das kannst du glauben. Sie sehen zwar richtig gefährlich aus, wenn sie mit ihren dicken Motorrädern mal losfahren – nichts da mit kleine Vespa. Das mache nur ich. Ich will ja niemanden erschrecken …“

„Das glaub ich jetzt nicht.“

Ein großer, dunkler Blick aus den Augen eines Mannes, der schon den ganzen etwas lang geratenen Vormittag versuchte, mir eine Botschaft ins Hirn zu hämmern, ohne mir dabei die Ohren abzureißen oder wirklich deutlich zu werden. Zumindest diese Botschaft hatte ich begriffen: Wer die Dinge beim Namen nennt, macht sich angreifbar.

Das ist, als wenn ein Boxer die Deckung vergisst.

Und Don Leone muss in seiner Jugend ein guter Boxer gewesen sein.

Deswegen erzählte er auch nicht, wie er der Sache ein Ende setzte. Und ob es überhaupt auf sein Augenzwinkern hin passierte, oder ob irgendein ein anderer wirklich wütender Mensch damals losgezogen war, um den schönen neuen Einkaufstempel mit seinen frisch geputzten Glasfassaden zu zerdeppern, noch während irgendwo hinten in der protzigen Rotunde noch die Einweihungsparty lief. Die After-Work-Party sozusagen, denn unsere Pressemeute war schon abgezogen, weil die Eröffnung ja noch für die neue Zeitung in Lettern gesetzt werden musste – die Meldungen vom Kristallklirren kam mitten in der Endproduktion, wir haben den Scherbensalat gerade noch mit untergekriegt.

In Leones Schilderung klang das eher so: Da ritt eine nackte Frau auf einem Besen zum hellerleuchteten Kristallpalast, dem Prunkstück unserer neuen reichen Welterlöser … 100 neue Geschäfte, prächtige Lüster, blinkende Reklame, der künftige Stolz dieser kleinen, verschlafenen Stadt … endlich eine Zierde, wie sie London nicht hatte, frisch eingeweiht mit Blaskapelle, Konfetti, Bankett …

„Eine nackte Hexe auf einem Besen?“

„Hat mich deine Freundin Margarita drauf gebracht …“

„Sie ist keine Hexe …“

„Wirklich?“

Zögern. Na ja, wenn Herr L. so richtig nachdachte.

„Aber ich kann sie mir nicht nackt auf dem Besen …“

„Das ist nur ein Bild. Solltest du kennen, auch wenn du Dante nicht magst. Wie hieß der große, unbarmherzige Kritiker, der im Buch des großen Meisters erlebt, wie ihm seine schöne vom Staat verliehene Wohnung in Scherben gehauen wird?“

„Vom Staat?“

„Nein, von einer nackten jungen Frau auf einem Besen natürlich!“

„Da passe ich lieber. Ich war nicht dabei.“

„Latunski hieß er. Und der schönste Satz geht so: ‚Es war einmal eine Tante, die hatte keine Kinder und kein Glück. Zuerst hat sie lange geweint, aber dann ist sie ganz böse geworden …‘“

„Sollte ich das kennen?“

„Solltest du. Hat mir Margarita erzählt. Und Margarita weiß, wovon sie redet. Vorher hab ich selbst nicht gewusst, dass es so ein wunderbares Buch gibt, in dem eine nackte Hexe einfach losfliegt und diesen verdammten Großmäulern die ganze Glasfassade zerdeppert.“

„So wie damals am Kristallpalast.“

„Genau so. Die Leute sind schreiend auf die Straße gelaufen.“

„Also waren das die …“

„Nein, mein lieber, waren sie nicht. Vergiss es einfach. Es ist nur ein Bild.“

„Aber wofür?“

„Für eine nackte Hexe auf dem Besen, sag ich doch. Für eine rothaarige, stinksaure junge Frau, denen so ein paar mächtige Arschlöcher das Liebste kaputtgemacht haben. Und für das Liebste muss man kämpfen, Scheiben einschlagen und den Säcken zeigen, was ein Hammer ist …“

„Von einem Hammer war im Polizeibericht aber kein Wort.“

„Nimm’s als Insider-Wissen. Der kleine dumme Herr Leone weiß ein bisschen mehr, als sich die Nachtmützen in ihren einbruchssicheren, scheußlichen Villen so denken können.“

Und er zeigte L. sein linkes Auge, und dann auch das rechte, so dass sich die beiden an diesem Tag tatsächlich für einen Moment tief in die Augen sahen.

„Hat es wenigstens gewirkt?“

„Und wie.“

Die Hundegräber hatte Don Leone gleich im Garten hinter seinem Haus angelegt. Man sah sie von der Straße nicht. Man sah sie nur, wenn man mit dem kleinen Mann, der manchmal durchaus etwas Teuflisches in seinen Augen aufblitzen ließ, auf der kleinen Terrasse am Haus saß und sich über alte Romane unterhielt, die L. nie gelesen hatte.

„Lass ihn dir von Margarita geben. Sie leiht ihn dir bestimmt gern …“

„Das heißt: Es geht die ganze Zeit nur um Margarita?“

„Wenn du es so sehen willst. Weiß du, dass ich dieses miese, neidische Kaff hier liebe? Und dass ich sogar erstaunlich viele Leute kenne, die froh sind, dass es mich gibt?”

„Nicht alle.“

„Ist doch egal. Ich bin doch kein Gigolo.“ Ich bin nur ein ganzer kleiner Junge aus einem Dorf ganz unten auf dem Stiefel, das hier niemand kennt. Aber ich habe mir immer geschworen: Du lässt dich von denen nicht einschüchtern. Nicht von solchen miesen Ratten, die nicht mal Skrupel haben, wenn sie sich an Frauen vergreifen …“

„Ma…“

„Frag nicht so viel. Sonst weißt du zu viel. Wir müssen los.“

„Noch eine Schlemmerei?“

„Viel schöner: Eine Kristallnacht …“

Die ganze Serie „Und was passiert jetzt?“

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