Leipzig will 1000 werden - 2015 ist es soweit. In einer Vortragsreihe wollen Stadtverwaltung, Sparkasse und Universität neue Trends der stadtgeschichtlichen Forschung darstellen. Zu "Stadt im Systemwandel" spricht am 12. April der Historiker Detlev Brunner am Beispiel Stralsund und Leipzig. L-IZ hat vorher mit ihm gesprochen.

Dr. Detlev Brunner, geboren 1959 in Weißenburg/Bayern, vertritt derzeit den Lehrstuhl für Neuere und Zeitgeschichte der Universität Leipzig. Nach der Promotion an der TU Berlin und der Habilitation an der Universität Rostock war er von 2007 bis 2009 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte München, Abteilung Berlin, tätig. Forschungsgebiete liegen in der sozialen und politischen Geschichte des 19./20. Jahrhunderts, aktueller Arbeitsschwerpunkt ist die deutsch-deutsche Verflechtungsgeschichte nach 1945.

Herr Brunner, bei allem Respekt vor einer traditionsreichen Hansestadt: Aber allerspätestens seit der industriellen Revolution spielten das vorpommersche Stralsund und das sächsische Leipzig nicht mehr in einer Liga. Was macht denn einen Vergleich beider Städte im 20. Jahrhundert so interessant?

Wollte man die beiden Städte aus einer wirtschafts- und sozialhistorischen Perspektive vergleichen, so würde dies in der Tat wenig Sinn machen – die Unterschiede allein in der Größenordnung sind zu offensichtlich.

Doch es geht gar nicht um einen Vergleich, weder in dieser noch in einer anderen Hinsicht. Es geht um die Frage nach der kulturellen und gesellschaftlichen Bedeutung von Stadt, insbesondere nach ihrer Rolle in den Zäsuren und Umbrüchen der neuesten deutschen Geschichte.

Und da spielen weniger Einwohnerzahlen und Wirtschaftsdaten als stadtbürgerliche Identität, Selbstdarstellungen und die Präsentation von Geschichte eine Rolle. Wer konstruiert die “Bilder” der Stadt, wie repräsentiert sie sich, welche Bedeutung hat der Stadtraum, wie wird er von den verschiedenen städtischen Milieus “angeeignet”, sprich genutzt – das sind wesentliche Fragen, die gezielt die Partizipation der Stadtgesellschaft einbeziehen, und damit auch die Bedeutung von Stadt in Demokratie und Diktatur thematisieren.Ihr Vortrag handelt von der “Stadt im Systemwandel”, zeitlich bezogen auf das 20. Jahrhundert. Wie sehr haben denn die politischen Systeme die Mentalitäten der Menschen in den Städten verändert?

Mentalitäten verändern sich relativ langsam. Die Brüche und Zäsuren im 20. Jahrhundert, also Novemberrevolution 1918, Beginn der NS-Diktatur 1933, Kriegsende 1945, um nur die Wendemarken in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu nennen, vollziehen sich in sehr kurzer Abfolge – so schnell ändern sich “Mentalitäten” nicht. Allerdings lassen sich Prägungen, Erfahrungen jeweils auch generationsabhängig ermitteln, doch das ist weniger stadttypisch als für die Gesellschaft insgesamt von Interesse. Bei den Städten ist eher bedeutsam, dass sie gerade in Umbruchszeiten Kontinuität vermitteln können, als Stabilitätsfaktor in Zeiten, in denen sich vieles oder – wie 1945 – nahezu alles zu verändern scheint.

So sehr im deutschen Fall die vergleichsweise schnellen politischen Systemwechsel ins Auge stechen, so sehr wirkten auch anders induzierte Modernisierungsprozesse, etwa technischer oder kultureller Art. Wie hoch würden Sie deren Anteil am Wandel der Stadtgesellschaften ansetzen?Es ist eine Wahrnehmungsfrage, und die kann durchaus ambivalent ausfallen. Auch in einer relativ geruhsamen Stadt wie Stralsund wurde in den 1920er Jahren das vorgeblich hektische Treiben im Zeichen von Verkehr und so weiter skizziert. Andererseits wurden die tatsächlich technisch innovativen Brückenbauten des Rügendammes 1936 in einer Weise porträtiert, die mit den mittelalterlichen Sakralbauten der Stadt in Konkurrenz trat – dies war natürlich auch eine Strategie des damaligen Stadtmarketings.

Selbst frühe Anklänge einer autogerechten Stadt – Stralsund vom Auto aus entdecken – sind in diesem Zeitraum erkennbar, allerdings und zum Glück ohne Erfolg. In der Großstadt Leipzig waren solche Wandlungsprozesse und deren Einfluss auf den städtischen Alltag natürlich erheblich stärker sicht- und fühlbar.

Stralsund wie Leipzig zählten seit der Reformation zum protestantischen Kernland. Inwieweit trugen sozialer Wandel und politische Verhältnisse hier zu den bekannten Veränderungen bei?Für Stralsund ist offenkundig: Neben einem mehrheitlich konservativ orientierten Bürgertum ist die protestantische Kirche eine feste Säule der Stadt und ihres Selbstverständnisses. Das hat sehr stark mit der Geschichte der Stadt zu tun, die ja den Nimbus pflegte, gegen das Wallensteinsche Heer 1628 getrotzt zu haben und dies mit schwedischer Hilfe.

1628 ist ein ganz einschneidendes Datum in dieser protestantisch dominierten Stadtgeschichte, die im übrigen von 1648 bis 1815 mit wenigen Unterbrechungen ja auch durch die Zugehörigkeit zur schwedischen Krone geprägt war – Stralsund war nicht nur eine protestantische, sondern für längere Zeit auch “schwedische” Stadt!

Erst ab 1945 und zu Zeiten der DDR treten hier deutliche Veränderungen ein – Veränderungen, die sich in Leipzig bei aller protestantischer Dominanz wohl schon vor 1933 im Ansatz einstellten. Ein hoher Anteil von Konfessionslosen war hier eine Folge der bedeutenden Leipziger Arbeiterbewegung.

Ihre Perspektive ist die der Abfolge der politischen Systeme. Das wirkmächtigste Ereignis des 20. Jahrhunderts war hingegen der Zweite Weltkrieg: als intendiertes Ergebnis des einen und als Voraussetzung eines anderen Systems. Welche Spuren hinterließen Krieg und NS-Diktatur in den Stadtgesellschaften?

Zum einen gab es die sichtbaren Spuren – Leipzig wurde stark zerstört, Stralsund zwar längst nicht in diesem Maße, doch auch hier hinterließ ein schwerer Bombenangriff am 6. Oktober 1944 Spuren der Verwüstung. 1945 als Ende von Krieg und NS-Diktatur war sicherlich die nachhaltigste Zäsur – die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit trat, trotz frühzeitiger Entnazifizierung zumindest in den Verwaltungen vielfach hinter die Bewältigung des chaotischen Alltags zurück.

Das Stichwort heißt “Zusammenbruchsgesellschaft”. Viele Deutsche sahen sich nun selbst als Opfer. Dies galt zumal für die sowjetisch besetzten Gebiete, in denen die Nazi-Propaganda und russophobische Vorurteile weiterwirkten, die sich durch die phasenweise massiven Übergriffe gegenüber der Zivilbevölkerung zu bestätigen schienen.

Teil 2 des Interviews demnächst an dieser Stelle.

Terminhinweis: Donnerstag, 12. April, 19.30 Uhr, Öffentlicher Vortrag im Rahmen der Leipziger Vorträge zur Stadtgeschichte mit PD Dr. Detlev Brunner “Stadt im Systemwandel – die Beispiele Stralsund und Leipzig”, Kunsthalle der Sparkasse Leipzig, Otto-Schill-Straße 4a

www.leipzig.de/stadtgeschichte

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