Am 17. Oktober veröffentlichte die L-IZ den Plan der Stadt Leipzig, den Bebauungsplan an der Telemannstraße im Musikviertel zu ändern, um hier einen neuen Schulbau zu ermöglichen. Vorsichtshalber. Die Ergebnisse eines Architektenwettbewerbs könnten durchaus deutlich abweichen vom geltenden B-Plan. Für Wieland Zumpe, der sich mit der Baugeschichte des Musikviertels intensiver beschäftigt, Grund genug für eine grimmige Mail an die Redaktion.

“Bezüglich der Schulstandorte hätten Sie sich ja mal über die sinnträchtigen Lösungen der Altvorderen informieren können …”, schrieb er. Und hing drei alte Ansichtskarten an, die die beiden Schulen im Musikviertel zeigen, wie sie bis 1943 existierten. Bis die Bomben, die auf Leipzig fielen, auch große Teile des Musikviertels zerstörten.

Die Wunden sind bis heute nicht beseitigt. Was an gründerzeitlicher Bausubstanz heute zu sehen ist, ist nur noch ein Rest. Vor allem trafen die Bomben die damalige Wohnbebauung im südlichen Teil des Viertel. Und die beiden Schulen. Die 1. Volksschule und die 3. Realschule, auf der Ansichtskarte von 1905 als III. Höhere Bürgerschule und als III. Realschule ausgewiesen. Sie lagen sich praktisch gegenüber. Die 1. Volksschule stand auf der Nordseite der damaligen Pestalozzistraße, Nummer 4, die 2001 in Telemannstraße umbenannt wurde. Sie war, wie der Musikviertel e.V. informiert, ein Bau des Architekten Otto Brückwald (1841 – 1917).Die III. Realschule stand mit ihrem Schaugiebel an der Ecke Ferdinand-Rhode-Straße / Schleußiger Weg. Dieser Schleußiger Weg darf nicht mit dem heutigen Schleußiger Weg verwechselt werden, der Südvorstadt und Schleußig verbindet. Er wurde 1920 umbenannt und als Teilstück in die neue benannte Wundtstraße aufgenommen.

Das Problem an beiden Schulstandorten ist: Sie wurden in den 1970er Jahren zweckentfremdet und völlig anders überbaut. Auf dem Gelände der III. Realschule entstand einer der Elfgeschosser in Plattenbauweise, die heute einen Großteil des Musikviertels dominieren. Auf dem Gelände der 1. Volksschule entstand ein abweisender Hallenkomplex, der bis heute gewerblich genutzt wird.

Womit ein Grunddilemma Leipzigs ins Blickfeld rückt: In der DDR-Zeit wurden viele einstige Schulstandorte einfach überbaut. Und selbst da, wo die Stadt nach 1990 wieder Zugriff gehabt hätte, hat die Verwaltung teilweise ganz andere Nutzungen platziert.

Für den ersten Fall sehr anschaulich ist ein Foto im gerade im Lehmstedt Verlag erschienenen Bildband “Über den Dächern von Leipzig”, ein Hansa Luftbild von 1931, das den Albrecht-Dürer-Platz in der Südvorstadt zeigt. Hier standen bis zum Bombenhagel 1943 sogar drei Schulen: An der Elisenstraße (heute Bernhard-Göring-Straße), gleich neben dem Landgericht, stand das Carolagymnasium. Die Fläche dürfte auch heute noch der Stadt gehören, doch sie hat die Hälfte an eine Garagengemeinschaft vermietet. Die andere Hälfte ist Parkplatz. Womit wieder recht deutlich wird, was in Leipzig über die Jahre immer Priorität hatte.
Und im Geviert von Elisenstraße, Moltkestraße, Bayerischer Straße und Arndtstraße (Bernhard-Göring-Straße, Alfred-Kästner-Straße, Arthur-Hoffmann-Straße, Arndtstraße) standen die VI. Bürgerschule und die 6. Bezirksschule als Doppelschulanlage. Auch hier wurden in DDR-Zeiten statt neuer Schulgebäude mehrere Wohnblöcke gebaut.

Das Königin-Carola-Gymnasium ist auch deswegen interessant, weil hier ein Bursche namens Rudolf Ditzen in der Schulbank saß, geboren 1893 in Greifswald, Sohn des Landrichters Wilhelm Ditzen, der 1909 als Reichsgerichtsrat und Richter ans Reichsgericht in Leipzig berufen wurde. “Er litt unter dem Verhältnis zum Vater, der auch für seinen Sohn eine Juristenlaufbahn vorgesehen hatte und ihm nicht die nötige Anerkennung zollte. Wie schon in Berlin galt er in der Schule als Außenseiter und zog sich immer mehr in sich selbst zurück”, schreibt Wikipedia zu Rudolfs Schulzeit 1909 bis 1911 am Carola-Gymnasium. Sein Abitur legte er freilich in Rudolstadt ab, wohin ihn seine Eltern verbannt hatten, nachdem er einem Mädchen nachgestellt hatte.

Schon die kleine Leipziger Episode lässt ahnen, warum dieser junge Mann Minderwertigkeitskomplexe hatte, Alkoholprobleme bekam und trotzdem einer der herausragenden Schriftsteller seiner Zeit wurde. Selbst da nahm er noch Rücksicht auf seinen Vater. Um ihn nicht mit seiner Schreiberei zu kompromittieren, nannte er sich Hans Fallada.
Aber nicht nur am Albrecht-Dürer-Platz sind wichtige innerstädtische Schulstandorte verloren gegangen. In Gohlis ging das Schiller-Realgymnasium verloren – es stand an der Frickestraße zwischen Ehrenstein- und Montbéstraße (heute Kommandant-Trufanow-Straße). Auch hier wurde die verfügbare Fläche in DDR-Zeit mit industriellem Wohnungsbau verbaut.

Am Zoo ging das Königlich Sächsische Gymnasium verloren. An seiner Stelle errichtete der Zoo sein erstes Parkhaus. Berühmtester Schüler: Hans Bötticher alias Joachim Ringelnatz.

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In Connewitz fehlen heute die 5. Volksschule (später Herderschule) und die Mädchen-Berufsschule. Hier ist der Herderplatz zu finden. Neben dem Stephaniplatz in Reudnitz ging die VII. Bürgerschule verloren. Auch hier findet man heute eine Freifläche. Und wenn die Stadt ernsthaft nach dem Standort für ein Gymnasium im Leipziger Osten sucht, dürfte ihr auch dieses Grundstück noch gehören.

Es ist nicht nur das Musikviertel, dass durch den Bombenhagel und die nachfolgend recht rücksichtslose Baupolitik an architektonischen Qualitäten und eben auch wichtigen Schulstandorten verloren hat. Es betrifft fast alle innerstädtischen Quartiere. Und die Stadt wäre natürlich gut beraten, die alten Schulstandorte, wo sie überhaupt noch verfügbar sind, zu sichern. Und sie wäre gut beraten, die Schulnetzplanung wieder langfristiger zu denken.

Wieland Zumpes Auflistung zu den Bauten im Musikviertel: www.technologienpsychologie.org/Musik4.htm

Der Musikviertel e.V.: www.musikviertel.de

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