Es gibt eine Menge Gelegenheiten zum Feiern, die Leipzig versäumt. Zum Beispiel, weil es keinen gibt, der im Rathaus eine Vorlage schreiben könnte: Jubiläum 2016, 1.000 Euro für ein Geburtstagspicknick auf dem Burgplatz. Aber wer hat denn da Geburtstag an diesem 13. Juli? Gustav Freytag heißt der Mann. Heute wäre er 200 Jahre alt geworden. Aber wo sollte man das in Leipzig feiern?

Die naheliegende Möglichkeit ist natürlich: auf dem Burgplatz, gleich neben dem riesigen Bauloch, das da seit 20 Jahren gähnt. Was man sehen sollte, muss man sich ausmalen. Otto Werner Förster hat das gemacht, der 2012 einen der schönsten Stadtführer für Leipzig veröffentlicht hat: „… daß ich in Leipzig glücklich seyn werde …“. In literarischen Spaziergängen ist er der Geschichte der Leipziger Dichter und Schriftsteller nachgespürt. In der üblichen Selbstwahrnehmung der Stadt kommen sie kaum vor. Das hat Gründe. Wir leben in einer Zeit, in der die entscheidenden Köpfe wenig bis gar nicht belesen sind.

Deswegen kennen sie auch die (revolutionäre) Geistesgeschichte der Stadt nicht, können vielleicht noch Robert Blum nennen, die Gründung der SPD und die Entstehung der Frauenbewegung. Das war’s dann in der Regel schon. Ein bisschen mehr sieht man im Alten Rathaus in der Ausstellung „Moderne Zeiten“. Da ist der „Verbrechertisch“ zu sehen. Der stand einst in der Gaststätte „Zur guten Quelle“ am Brühl und daran trafen sich – ab 1856 – die einstigen Wortführer der 1848er Revolution, manche nach mehrjähriger Festungshaft.

Man merkt gar nicht, dass man mitten in der Ausstellung einen heftigen Sprung getan hat. Denn vor dieser Runde der alten Revolutionäre gab es einen vergleichbar diskussionsfreudigen Tisch schon in einer anderen Leipziger Gaststätte: im Bierlokal Kitzing & Helbig. Namhafte Schriftsteller, Philologen, Verleger und Redakteure trafen sich hier, schreibt Förster, in dem versteckt liegenden Bierlokal als „Kitzinggesellschaft“. Und zwar ab Beginn der 1850er Jahre. Die illustre Runde erzählt davon, wie vielfältig und buntscheckig die politischen Strömungen schon in der 1848er Revolution gewesen waren.

Bei Kitzing trafen sich die national-liberalen Köpfe. Und das waren damals in Leipzig namhafte Leute, die man heute noch immer in anständigen Lexika findet: Karl Biedermann (nach dem die Biedermannstraße in Connewitz benannt ist), Friedrich Gerstäcker (dessen 200. Geburtstag wir wenigstens in der L-IZ gefeiert haben), die Verleger Karl Reimer und Salomon Hirzel (Hirzel wird zu Freytags wichtigstem Verleger), Mori(t)z Haupt (Philologieprofessor, 1851 von der Uni seines Amtes enthoben – er taucht in Freytags Roman „Die verlorene Handschrift“ als Professor Werner auf), Hermann Härtel (ebenfalls Verleger, nach ihm ist die Härtelstraße benannt), Georg Wigand (Verleger, nach ihm ist die Wigandstraße benannt) und nicht zu vergessen die beiden maßgeblichen Historiker Theodor Mommsen (den die Uni 1851 ebenfalls feuerte, Autor der viel gelesenen „Römischen Geschichte“) und Heinrich von Treitschke.

Der Anstifter dieser Runde war Gustav Freytag, der schon 1846 erstmals im „sächsischen Exil“ auftauchte, denn genauso wie Heinrich Laube stammt er aus dem Schlesischen. Deswegen hat auch er einen Band in der Reihe „Schlesische Grenzgänger“ bekommen. Und auch er begegnete an der Uni Breslau jenem Professor und Dichter, der bis heute mit seinem „Deutschlandlied“ berühmt ist: Hoffmann von Fallersleben. Seine Lieder waren damals aufrührerisch. Und wer die Geschichte kennt, weiß, dass das Deutschlandlied geschrieben wurde, als die Schaffung eines einigen Deutschland noch reine Utopie war.

Eine Utopie, die die Köpfe der Kitzinggesellschaft teilten.

Auch Freytag, der sich später sehr kritisch mit der Bismarckschen Politik beschäftigte. 1848, pünktlich zur Revolution, war Freytag wieder nach Leipzig gekommen. Seine Bilanz für diese vergeigte Gelegenheit zitiert Otto Werner Förster: „Es war die schläfrigste Revolution, die man sich denken kann …“

Und was machte Freytag in Leipzig? Zum einen gab er seine „Dramatischen Werke“ in zwei Bänden heraus. Quasi als einen (vorläufigen) Schlusspunkt, denn mit der Revolution, fand er, war auch die Zeit für sein dramatisches Schaffen vorbei. Er wollte lieber Romane schreiben. Im Drama „Die Journalisten“ verrät er auch, wer sein großes Vorbild dafür war: Boz. Das war das Pseudonym, unter dem Charles Dickens seine Romane veröffentlichte, die heutige Literaturtheoretiker ohne viel Federlesens in den „Realismus“ einordnen.

Dass der „Realismus“ ein Kind der 1848er Revolution ist, ist ihnen dabei meist nicht bewusst. Genauer: Er war ein Kind der liberalen Zeitschrift „Die Grenzboten“. 1848 hatte Freytag die Hälfte des Magazins übernommen, das bei F. W. Grunow in Leipzig erschien. Die andere Hälfte übernahm der Literaturhistoriker Julian Schmidt. Und es steht zu vermuten, dass er ebenfalls an den Runden bei Kitzing teilnahm. Und beide entwickelten im „Grenzboten“ die Realismus-Theorie, die bis heute gilt. Manchmal ist es ganz gut zu wissen, wer als erster auf die Idee kam, eine neue Strömung auch mit einem neuen Namen zu versehen. (Nicht ahnend natürlich, dass später ein paar Flachköpfe auch noch einen „sozialistischen Realismus“ erfinden würden.)

Beide formten „‚Die Grenzboten‘ zum einflussreichsten Organ des liberalen deutschen Bürgertums“, fasst Wikipedia die Rolle dieser Zeitschrift zusammen. Und das gelang auch, weil Freytag für die Zeitschrift auch als Redakteur und Journalist tätig wurde. Politisch kritisch, wie Wikipedia betont. Den sächsischen Behörden zu kritisch. 1851 bittet Freytag den mit ihm befreundeten Herzog Ernst von Sachsen-Coburg-Gotha um Asyl. Damit ist sein Leipziger Kapitel beendet.

Den gastfreundlichen Herzog aus Gotha haben wir nicht ohne Grund erwähnt: Das ist der Mann, der 1862 die Afrika-Reise bezahlte, an der auch Alfred Brehm teilnahm, der berühmte Tierleben-Brehm, der gleich nach der Reise tüchtig mit Freytag zusammenrasselte, weil Freytag seinen Reisebericht heftig redigiert hatte. Und das Brehm!

Den Leipzigern im 19. Jahrhundert war durchaus bewusst, was für liberale Köpfe da eine Zeit lang in ihren Straßen gelebt hatten. Freytag wohnte zum Beispiel in der Rosentalgasse und ab 1848 in der Königstraße 16 (heute Goldschmidtstraße). Das ist gerade einmal zwei Häuser vom Mendelssohnhaus entfernt. Man könnte versucht sein, sich das auszumalen … Aber Mendelssohn Bartholdy war schon 1847 gestorben. 1899 hat dann auch Gustav Freytag seine Straße in Leipzig bekommen – man findet sie in Connewitz im Campus der HTWK Leipzig. Hätte die dortige Bibliotheksausbildung auch ein eigenes Gebäude, hätte man es problemlos Gustav-Freytag-Bau nennen können.

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