Zur Vorgeschichte der deutschen Wiedervereinigung gehört auch das Erfurter Gipfeltreffen zwischen Bundeskanzler Willy Brandt und dem Vorsitzenden des Ministerrats der DDR, Willi Stoph, am 19. März 1970 in Erfurt. Das Treffen bereitete nicht nur Helsinki vor, sondern war auch der Auftakt einer Ostpolitik, die gerade DDR-Bürgern die Hoffnung gab, dass die eingemauerten Zustände irgendwann ein Ende finden. Auch dieses Ereignis ist nun schon 50 Jahre her.

Was der Bundesnachrichtendienst (BND) im Vorfeld über das erste deutsch-deutsche Gipfeltreffen im März 1970 in Erfurt an Bundeskanzler Willy Brandt zu berichten wusste und wie der BND die Ereignisse in Erfurt später aufbereitet hat, das schildert Jan Schönfelder in der jüngsten Ausgabe der Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat der Freien Universität Berlin (ZdF 45/2020).

Seine Darstellung hat inzwischen auch das Deutschland-Archiv der Bundeszentrale für politische Bildung für seinen Internetauftritt übernommen.

Die Grundlage der Darstellung Schönfelders sind zahlreiche, inzwischen freigegebene Unterlagen des BND, die im Bundesarchiv Koblenz aufbewahrt sind. Nach dem Regierungsantritt der sozialliberalen SPD/FDP-Koalition im September 1969 musste der BND umlernen. Eine Weisung des BND-Präsidenten Gerhard Wessel an seine Auswertungsabteilung verfügte am 4. November 1969 die Umbenennung des bisherigen „Lageberichts SBZ“ in künftig „Politische Lage in der DDR“.

Das missfiel einigen Beamten der Abteilung III B 3 des BND, die der „Kanzlerlage“ Erkenntnisse aus der SED-Zentrale und dem DDR-Regierungsapparat zu liefern hatte. Noch einen Monat nach dieser Weisung bezeichnete der Abteilungsleiter III B 3 seinen Arbeitsbereich im internen Schriftverkehr als „Zonenreferat“ und noch im Februar 1970 berichtete der BND dem Kanzleramt, „Pankow möchte prüfen, inwieweit die Bundesrepublik bereit ist, ihre Ostpolitik durch Konzilianz gegenüber der DDR zu fördern.“

Da Bundeskanzler Willy Brandt sich nicht, wie von der SED-Führung gewünscht, auf einen „Staatsbesuch“ in Ost-Berlin einlassen wollte, standen die Verhandlungen über ein deutsch-deutsches Gipfeltreffen im März 1969 kurz vor dem Scheitern. Schönfelder vermutet, dass es schließlich auch auf sowjetischen Druck zustande kam.

Die Verhandlungen der Unterhändler des sowjetischen Parteichefs Leonid Breschnew mit Egon Bahr, die im August 1970 zum „Moskauer Vertrag“ führten, waren schon weit gediehen. Deswegen wollte man sich in Moskau durch die Sturköpfe im SED-Politbüro nicht den Weg zu einer auch wirtschaftlich vorteilhaften deutsch-sowjetischen Verständigung mit Westdeutschland verbauen lassen.

Die SED-Führung musste Erfurt als Treffpunkt von Willy Brandt und dem DDR-Ministerpräsidenten Willi Stoph akteptieren. In der letzten Kanzleramtsbesprechung vor der Abreise Willy Brandts informierte, wie Jan Schönfelder schreibt, BND-Präsident Wessel über die neusten BND-Erkenntnisse aus dem SED-Parteiapparat.

„Den Anwesenden präsentiert er ein mitgeschnittenes Telefonat zwischen SED-Propagandachef Albert Norden und dem 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Erfurt, Alois Bräutigam. ‚1000 Genossen oder so viele wie Du für nötig erachtest‘ will der Spitzenfunktionär dem Erfurter Statthalter zur Verfügung stellen, ‚damit nicht etwa die Kleinbürger – besonders da in der Gegend Bahnhof, ‚Erfurter Hof‘ usw. – damit nicht Kleinbürger das Bild beherrschen …‘ Die Information, dass die Telefonleitung eines SED-Spitzenfunktionärs erfolgreich angezapft wurde, ist so brisant, dass Wessel die kleine Runde ausdrücklich auf den Schutz solcher Quellen hinweist. ‚Werden sie bekannt, wird DDR sie sofort stopfen‘“.

In der gleichen Lagebesprechung informierte der BND-Präsident auch über die KZ-Gedenkstätte Buchenwald. „Das Kanzleramt hatte um Informationen gebeten, als der Besuch Brandts in der Gedenkstätte in den Reiseplan kurzfristig aufgenommen wurde. Wessel legt die Ergebnisse seiner Recherchen vor. Er versichert, dass Buchenwald nach 1945 nur von Sowjets als Internierungslager benutzt worden und Stoph nicht für Gräueltaten verantwortlich sei. Der BND schickt noch einen Lageplan und eine ‚nähere Darstellung über die nunmehrige Ausgestaltung der Gedenkstätte‘ ins Kanzleramt. Die Dokumente hat der Geheimdienst dem ‚Stadtführer Weimar‘ von 1969 entnommen. Das ist scheinbar alles, was der BND in der Kürze der Zeit ermitteln kann.“

Wie Schönfelder schreibt, hatte Brandts neuer Mitarbeiter Günter Guillaume den Gedenkstättenbesuch ins Spiel gebracht. Der Kanzler musste es hinnehmen, dass in Buchenwald die Inszenierung eines Pseudostaatsbesuchs stattfand, mit Soldaten einer Ehrenkompanie der NVA, roten Fahnen und als Publikum-Hintergrund angekarrten SED-Mitgliedern. Willy Brandt war dank Guillaume „in eine protokollarische Falle getappt“. Was sich zuvor in Erfurt ereignet hatte, sollte sich nicht wiederholen, weswegen der Bundeskanzler auf abgeschirmten Straßen nach Buchenwald gebracht wurde.

Einen Tag vor dem Erfurter Treffen meldete der BND nach Schönfelders Darstellung „das Ergebnis einer geheimen Umfrage der SED unter der DDR-Bevölkerung. Danach hätten 70 Prozent der Arbeiter auf die Frage, ob die DDR ihr Vaterland sei, mit ‚nein‘ geantwortet und ‚Deutschland‘ als ihr Vaterland bezeichnet.“

Immerhin sang man 1970 in der DDR noch die Hymne mit dem Text „Deutschland, einig Vaterland“. Doch auch als die SED-Führung unter Erich Honecker die DDR zur eigenen Nation erklärte und Eislers Komposition nur noch wortlos und ohne die Reime von Johannes R. Becher erklang, blieb in den Herzen und Köpfen der meisten DDR-Bürger Deutschland als Vaterland erhalten.

Die Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat der Freien Universität mit vielen weiteren interessanten Beiträge ist zum Preis von 12 Euro erhältlich und bestellbar bei ZdF-Redaktion Forschungsverbund SED-Staat der FU, 14195 Berlin, Koserstraße 21.

Vorankündigung: Unter den nächsten FU-Veröffentlichungen der Titel „Prominente Musikprofessoren in Weimar als Vasallen der DDR-Staatssicherheit“.

Die neue Leipziger Zeitung Nr. 82: Große Anspannung und Bewegte Bürger

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