Im Zusammenhang mit "800 Jahre Thomana" ploppte das Kapitel für Leipzig zum ersten Mal wieder auf: Es gab auch schon ein religiöses Leipzig vor der Reformation. Und in den angrenzenden Gegenden Mitteldeutschlands war es nicht anders. Doch die Zeit davor ist kaum noch irgendwie präsent. Das macht sich selbst beim Titel der neuen Ausstellung bemerkbar, die am Dienstag, 3. Juni, im Stadtgeschichtlichen Museum eröffnet wurde: "Umsonst ist der Tod". - Wie bitte?

Ist das jetzt eine Ausstellung über Särge, Urnen und die fantasiereichen Rechnungen von Beerdigungsinstituten? Wäre im hohen Mittelalter überhaupt jemand auf die Idee gekommen, so einen laxen Spruch von sich zu geben? Selbst in der längeren Volksmund-Variante: “Umsonst ist der Tod, und der kostet das Leben”? – Es ist schon verblüffend, wie das Denken einer Zeit, die alles mit einer Kostennote versieht, auch seriöse Ausstellungsmacher verwirren kann. In diesem Fall waren nicht die Leipziger dran schuld. Denn unter dem Titel wurde die Ausstellung auch schon von September 2013 bis April 2014 in Mühlhausen gezeigt.

Die Ausstellung ist ein Drei-Länder-Projekt. Nach Leipzig wird die Schau auch noch in Magdeburg präsentiert. Der eigentliche Kern steckt im Untertitel: “Alltag und Frömmigkeit am Vorabend der Reformation”.

Das ist ein Thema, mit dem sich der Kurator Dr. Hartmut Kühne im Grunde seit über 20 Jahren beschäftigt. Nach seinem Theologiestudium hat er sich intensiv mit christlicher Archäologie beschäftigt. Dazu muss man nicht einmal ins Heilige Land fahren. Die “terra incognita”, wie er es nennt, beginnt schon hier, mitten in Mitteldeutschland. Ein Großteil der Religionsgeschichte vor Luther wurde in diesem “Kernland des Protestantismus” einfach in die Archive entsorgt. Aus den Augen, aus dem Sinn. Der alte Glaube war abgetan. Und damit verschwanden nicht nur die Geschichten von Klöstern, Kirchen und Bischöfen, auch der religiöse Alltag des Volkes wurde quasi entrümpelt. Wallfahrtsorte, Kirchenrituale, Gnadenorte, Memoria und Prozessionen verschwanden – erst aus dem Alltag, dann aus der Erinnerung. Oft genug blieben nur vage Spuren in Bibliotheken und Akten.

Umso erstaunlicher ist, was Dr. Hartmut Kühne in einem zweijährigen Recherche-Projekt in Archiven, Kirchen, Bibliotheken und Museen alles ausgegraben hat – Strandgut einer vergangenen Zeit, das von einer Frömmigkeit erzählt, die heute kaum noch vorstellbar ist. Oder vielleicht doch? Denn parallel zu dieser Ausstellung sieht man im Untergeschoss des Museums die Kabinettausstellung “Leipzig in Black” mit Fotos von den alljährlichen Wave Gotic Treffen in Leipzig. Irgendetwas bewegt auch den modernen Menschen, sich mit den Unwägbarkeiten des Lebens zu beschäftigen.Viele der Besucher des diesjährigen Treffens werden auch durch die eindrucksvolle Ausstellung im Parterre spazieren, in der 300 Ausstellungsstücke aus jenem Jahrhundert erzählen, das hier als “Vorabend der Reformation” beschrieben wird, das aber halb Europa längst als Renaissance erlebte. Es gärte allerorten. Eine neue Zeit kündigte sich an. Und so begegnet der Besucher der Ausstellung nicht nur all den Erinnerungsstücken an vergangene Bräuche, Teile einer regelrechten Inszenierung von christlichem Leben in den Kirchen und in den Haushalten der Bürger. Er begegnet auch den Vorläufern Luthers. Mit wahrer Freude hat Kühne sie in die Ausstellung gepackt. Ganz so, als wolle einer verstaubten Geschichtsschreibung den Fehdehandschuh hinschmeißen: Nein, mit Luther fing das alles nicht an. Luther war nur derjenige, der einer langen Entwicklung den letzten Schwung verliehen hat.

Da sind die Pilgerfahrten ins Heilige Land, die nach dem Abzug der Kreuzritter ja nicht aufhörten, im Gegenteil. Jetzt gingen Venezier und Holländer ganz wie moderne Touristikunternehmer daran, die Pilgerfahrten nach Jaffa und Jerusalem zu organisieren. In Leipzig fand Kühne den ältesten gedruckten Reiseprospekt der Welt, der eine Reise beschreibt, die dann 1514 tatsächlich zustande kam. Fast nebenan ist ein kleines Bibelkabinett, in dem eindrucksvolle Exemplare belegen, dass es vor Luther schon 17 verschiedene deutsche Bibelübersetzungen gab und auch schon entsprechend gedruckte Exemplare, bevor Luthers Biblelübersetzung zum Bestseller wurde. Warum Luther, warum nicht die anderen, fragt man sich. Kann es sein, dass mit Luther auch das moderne Marketing Einzug hielt in die Welt?

Und wie ist das mit dem Wunderglauben, der mit dem Buchdruck ebenfalls neue Blüten erlebte, denn neben religiösen Schriften waren es auch Mirakelbücher, die sich bestens verkauften. Bücher, die die uralte Sehnsucht der Menschen nach Wundern zwar nicht befriedigten, aber bedienten. Denn bis zur Aufklärung war es ja noch zwei Jahrhunderte hin. Und wie wir heute wissen, wollen viele Menschen den beschwerlichen Weg des Selberdenkens gar nicht gehen, glauben lieber an allerlei höhere Mächte. So wie ihre Vorfahren im 15. Jahrhundert, in dem die Verstorbenen den Lebenden viel präsenter waren als uns heute. Man hat sie damals nicht einfach entsorgt. Ihr Gedächtnis wurde auch nach dem Tod bewahrt – mit Memorialstiftungen, Gedächtnisfeiern, Seelenmessen. Unvorstellbar, das in diesem Zusammenhang auch nur einer gesagt hätte: “Umsonst ist der Tod …”Auch weil das Verhältnis zum Tod ein Anderes war. Die Verstorbenen blieben präsent. Manchmal auch leiblich, wie Kühne zu erzählen weiß, als Körperteil in einem Sühneverfahren etwa, bis ein Mord oder Totschlag gesühnt waren. Die Sagen der Zeit sind voller solcher Sühnegeschichten, die auch lebendig davon erzählen, wieviel Angst die Lebenden vor den zu Unrecht Getöteten hatten. Auf Burgen, an Kreuzwegen, an Weihern gingen die Seelen der Getöteten um. Wer gefrevelt hatte, musste büßen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Zur Buße konnte auch eine Pilgerfahrt gehören. Etwa nach Aachen. Den Menschen dieser Zeit war sehr wohl bewusst, dass es für jede Untat einen Ausgleich geben musste. Noch ein Argument gegen den Titel der Ausstellung. Dem 15. Jahrhundert war sehr wohl bewusst, dass auch der Tod seinen Preis hatte. Denn die Toten waren ja selbst im Kirchenraum präsent. Und die Angst vor dem Fegefeuer war eine reale. Auf diesem Boden wuchs der Ablasshandel, der dann Luther eines der wichtigsten Argumente gab, seine Thesen an die Wittenberger Kirchentür zu hämmern. Im Grunde alles Thesen, die genau dem widersprechen, was der Ausstellungstitel verkündet: Ihr könnt nicht handeln! Oder noch etwas zugespitzt: Gott lässt nicht mit sich handeln. Ihr könnt euch nicht freikaufen.

So gesehen ist selbst der Ablasshandel schon ein modernes Element im alten Glauben, verweist auf eine Zeit, in der alle – auch menschliche Ängste und Sorgen – zur Ware werden. Logisch, dass der Ablass in der Ausstellung ein eigenes Kapitel bekam – das 7., quasi das letzte, das schon die Tore aufstößt zu Tetzel und Luther. Das aber auch zeigt, dass die innerkirchlichen Diskussionen um das richtige Leben und die richtige Auslegung der Heilslehre vor Luther längst entbrannt waren. Auch durchaus mit der auf offenen Plätzen erhobenen Forderung der Rückkehr zum richtigen, einfachen Glauben und richtigen Leben. In Italien steht die Gestalt Savonarolas für diese Haltung, die durchaus fundamentalistisch zu nennen war. In Mitteldeutschland erlebte der Predigermönch Johannes Kapistran, wie er mit solchen mahnenden Predigten ganze Marktplätze füllen konnte – auch den Leipziger.

Auch das findet man in der Ausstellung, die auf ihre Weise ein Jahrhundert mit Bildern erfüllt, das bislang in der neueren Geschichtsschreibung fast nicht vorkam. Es zeigt die Welt, die Luther eben nicht nur “zerstörte”, sondern in der Vieles, was wir heute mit der Reformation verbinden, schon existierte und sich Bahn zu brechen versuchte. Dass all das mit 300 Leihgaben von 80 Leihgebern anschaulich gemacht wird, macht die Ausstellung natürlich auch zu einer kleinen Augenweide. Selbst die eng gestellten Boxen und die dunkle Raumgestaltung laden zu einem Verinnerlichen ein.In der ganzen Ausstellung sind auch noch Videoinstallationen zu finden, auf denen vor allem Videoclips zu sehen sind, die im Zusammenhang mit der Recherche und der Ausstellungsentwicklung entstanden. Experten erläutern dort verschiedene Aspekte dieses Kosmos eines fast vergessenen Jahrhunderts. Manches wurde aus Kirchen gerettet, als sie “vom alten Plunder befreit” wurden, die Bücherschätze stammen zumeist aus alten Klosterbibliotheken, die ja im 16. Jahrhundert fast alle aufgelöst wurden. In der Leipziger Universitätsbibliothek haben viele dieser Bücherschätze überdauert.

Für Kühne fing alles an, als er sich vor 20 Jahren mit der seinerzeit berühmten Reliquiensammlung Friedrich des Weisen beschäftigte. Denn nach Wittenberg pilgerte man vor 1517 nicht, um Luther zu sehen oder zu hören, sondern um Friedrichs gewaltige Reliquiensammlung zu bewundern. Oder etwas anderes damit zu machen. Aber was nur? Auch das beschäftigte Kühne. So kam er zu seinem wohl im mitteldeutschen Raum sehr einmaligen Forschungsfeld. Aber als das Thema dann im Rahmen der Lutherdekade 2008 angesprochen wurde, waren alle drei Bundesländer dabei, die Idee zu unterstützen. Im Grunde ist es auch nicht ganz dieselbe Ausstellung, die jetzt von Mühlhausen nach Leipzig kam und dann in Magdeburg gezeigt wird. Jedes Bundesland gibt der Ausstellung noch eigene Schwerpunkte, zeigt also auch die jeweilige Besonderheit der Region.

Deswegen lohnt es sich, die Leipziger Ausstellung nicht zu verpassen. Vergleichbares wird es hier auf Jahre nicht wieder zu sehen geben.

Zu sehen ist die Ausstellung vom 4. Juni bis zum 31. August im Stadtgeschichtlichen Museum im Böttchergässchen.

Eine erste Kuratorenführung in der Ausstellung “Umsonst ist der Tod” gibt es am Donnerstag, 5. Juni, um 16 Uhr: “Gemeinschaft der Lebenden und der Toten”.

Eine Entdeckungsreise in die spätmittelalterlichen Glaubenswelten Mitteldeutschlands erwartet die Besucher am Donnerstag, 5. Juni, um 16 Uhr in der Ausstellung “Umsonst ist der Tod” im Stadtgeschichtlichen Museum. Dr. Hartmut Kühne, Kurator der Schau, berichtet insbesondere von den religiösen Zeremonien und Riten, die darauf abzielten, die Leidenszeit der Seele eines Verstorbenen im Fegefeuer abzukürzen. In dieser sogenannten Memoria gingen die Lebenden mit den Toten eine dauerhafte Bindung ein und bildeten somit eine Brücke in den Himmel. So zeigt eine Darstellung vom Altarsockel des Meißener Doms von 1526, wie Engel die armen Seelen aus dem Fegefeuer befreien, während die Angehörigen andächtig vor dem Altar knien.

“Umsonst ist der Tod” eröffnet mit rund 300 Exponaten zur religiösen Alltagspraxis und Mentalität ein einzigartiges Zeitfenster in die Epoche vor dem Wittenberger Thesenanschlag. Die Ausstellung gibt Einblick in die Sorgen und Nöte der Menschen dieser Zeit, ihre Suche nach Antworten im christlichen Glauben. Viele Ausstellungsstücke sind erstmalig zu sehen, einige überdauerten unentdeckt die letzten 500 Jahre.

Der Eintritt beträgt 5 Euro, ermäßigt 3,50 Euro.

www.stadtmuseum-leipzig.de

Die Mühlhausen-Website zur Dreier-Ausstellung: www.umsonst-ist-der-tod.de

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