Der Nordirland-Konflikt darf heute als Leiche im Keller der britischen Innenpolitik gelten. Im Laufe der Jahre versuchten sich zahlreiche Filmemacher an dem schwierigen Sujet. James Marsh (50) hat einen interessanten Zugang entdeckt.

1993: Colette McVeigh (Andrea Riseborough) ist Mitte 20, alleinerziehend, lebt in Belfast und ist Mitglied der terroristischen IRA. Weil ihr Bruder im Kindesalter erschossen wurde, nachdem sie ihn losgeschickt hatte, um für den Vater Zigaretten zu kaufen, plagt sie sich immer noch mit Schuldgefühlen.

Anfang der 1990er sind die Friedensverhandlungen zwischen den verfeindeten Parteien weit fortgeschritten. Nur noch wenige Aktivisten suchen den bewaffneten Kampf. Colette wird von ihrem Bruder Gerry (Aidan Gillen) beauftragt, eine Bombe in der Londoner U-Bahn zu deponieren. Beim Versuch erwischt, drängt sie der britische Geheimdienst MI5 zur Kooperation. Wenn sie ihre Familie bespitzelt, bleiben ihr 25 Jahre Haft erspart.

Kaum in Belfast zurück, verdächtigt sie ihr misstrauischer Bruder des Verrats. Sie entkommt nur knapp einer Exekution durch die eigenen Leute. Offenbar kann ihr nur noch MI5-Kontaktmann Mac (Clive Owen) helfen.
James Marsh ist Cineasten vor allem wegen seiner Dokumentationen “Man on Wire” (2008) und “Project Nim” (2011) bekannt. In “Shadow Dancer” widmet er sich den IRA-Terroristen, die sich dem Druck der Friedensgespräche Anfang der 1990er nicht beugten. Gleichzeitig wirft er einen Blick auf die fragwürdige Praxis des britischen Inlandsgeheimdienstes, gefasste Angehörige der IRA unter Druck zu lebensgefährlichen Spitzeltätigkeiten zu drängen.

Marsh schildert die fiktive Tragödie einer jungen Nordirin in tristen, grauen Aufnahmen. Seine Bilder sind so trostlos wie die objektive Sinnlosigkeit der blutigen Auseinandersetzungen, die über Jahrzehnte wie ein roter Faden die irische Nachkriegshistorie durchziehen. “Shadow Dancer” ist ein Erinnerungsfilm an jene bleierne Jahre, die heute wie ein Mahnmahl an der Historie der britischen Inseln kleben.

Tom Bradbys Drehbuch lässt den Zuschauer teilnehmen an konspirativen Treffen, an Folter, an menschlichen Dramen und an der Gewalt. “Shadow Dancer” erinnert, indem der Film Bilder schafft, die Leerstellen in den Köpfen der Zuschauer zu füllen vermögen.
Mit Andrea Riseborough (31), zuletzt in “Oblivion” zu sehen, hat Marsh eine Hauptdarstellerin gefunden, die ihre Figur nicht plakativ wiedergibt, sondern auf’s Innerste seziert. Ihr minimalistisches Spiel, das gelegentlich nur von wenigen Gesten geprägt zu sein scheint, ruft beim Zuschauer Gefühle hervor, die zum Nachdenken anregen. Clive Owen, der einen MI5-Agenten mit moralischen Prinzipien spielt, wirkt in ihrem Schatten recht blass.

Aidan Gillen (45), dem breiten Publikum “Game of Thrones” bekannt, verkörpert den Prototyp des schmierigen Fanatikers. In einer Nebenrolle kommt es zum Wiedersehen mit “Akte X”-Ikone Gillian Anderson (45), die Macs kaltherzige Vorgesetzte verkörpert.

James Marsh gelingt das Kunstsück, mit “Shadow Dancer” einen Film vorzulegen, der rund zwei Jahrzehnte nach Beginn des Friedensprozesses die politische Stimmung unter den militanten Splittergruppierungen der IRA einzufangen vermag. Die Produktion verstört bisweilen, wühlt den Zuschauer auf und regt auch sechs Jahre, nachdem die IRA ihre Waffen endgültig niedergelegt hat, zum Nachdenken an. Der deutsche Zuschauer kommt obendrein nicht umhin, gewisse Parallelen zum Umgang hiesiger Verfassungsschutzbehörden mit gewaltbereiten Neonazis zu erkennen.

GB/Irland 2012, R: James Marsh, D: Andrea Riseborough, Clive Owen, Gillian Anderson, Aidan Gillen, 101 Min, FSK 12.

Filmstart ist der 5. September, zu sehen in der Schaubühne Lindenfels.

Die Seite zum Film:
www.fugu-films.de/site_german/german_filme_shadow_dancer.html

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