Kalt ist es am 3. Dezember auch in Knauthain. Doch in der Hoffnungskirche leuchtet nicht nur der Herrnhuter Stern. Die Bänke füllen sich mit jeder Minute mehr. Zuletzt reichen die Sitzplätze nicht und Pfarrer Karl Albani und seine Getreuen müssen noch jene legendären Papphocker von der Orgelempore holen, die einst zum Kirchentag in Leipzig Verwendung fanden. Doch er hat keinen außergewöhnlichen Prediger eingeladen. Ein Buch lockt die Knauthainer.

Und die Knautkleeberger, Hartmannsdorfer und Rehbacher. Ist ja alles gleich um die Ecke. Auch ein paar Bösdorfer sind dabei – auch wenn es Bösdorf seit 30 Jahren nicht mehr gibt. Es ist eine dieser nun fast traditionellen Buchpremieren von Pro Leipzig, wo seit 1990 schon über 280 Buchtitel erschienen sind. Manche schon seit Jahren vergriffen. Manche sind nur mit kräftiger Unterstützung von Gewerbetreibenden vor Ort zu finanzieren. Denn je kleiner der mögliche Empfängerkreis wird, umso komplizierter wird es, Herstellungskosten und Auflage auszutarieren. Und kleinteilig ist das schon, was viele Bücher von Pro Leipzig abbilden.

Kleinteilig und trotzdem gefragt. Über die erfolgreiche Chronik-Serie aus dem Nachbarortsteil Großzschocher-Windorf hat die L-IZ immer wieder berichtet. Die Bände sind fast alle vergriffen. Man sammelt sie zu Hause, um sich der eigenen Ortsgeschichte auf reich bebilderte Art immer wieder zu versichern. Oder man verschenkt die Bände zu Weihnachten an all jene, die es in die weite Welt verschlagen hat. Das sind Wurzeln, die man hegen und pflegen kann.

Auf ganz andere Art gingen die Dölitzer auf Erkundung in ihre jüngere Geschichte. Oder vielmehr: Ein emsiger LVZ-Reporter, der mit dem Ortsteil eng verbunden ist, tat es für sie, machte Termine aus, stand vor der Haustür, saß auf der guten Couch und ließ sich erzählen. Ekkehard Schulreich heißt der Bursche, der mittlerweile schon drei Bände mit 60 Lebensbildern aus Dölitz zusammengetragen hat. “Die Serie kam so gut an, dass er jetzt schon am vierten Band sitzt”, erzählt Thomas Nabert, Geschäftsführer des Pro Leipzig. e.V., an diesem 3. Dezember in der Hoffnungskirche, nachdem Karl Albani auf seine Art verschmitzt erzählt hat, wie er das Projekt sieht.

Denn als Pfarrer hört er regelmäßig die Geschichten seiner Schäfchen. Oft auch den Stoßseufzer: “Ach, Herr Pfarrer, ich könnte ein Buch schreiben!” Albani weiß, wie wichtig die Erinnerung ist – nicht nur als Selbstvergewisserung, sondern auch als Botschaft an die Kinder und Enkel. “Schreiben Sie das auf”, sagt er dann immer. Und hat auch gleich die Pointe parat: “Und dann kommt meist der Satz: Ach, das interessiert doch keinen …”

Einen Satz, den auch Journalisten kennen. Auch deshalb kennen, weil die scheinbar so alltäglichen Geschichten kaum mehr vorkommen in den Zeitungen. Ekkehard Schulreich ließ sich davon nicht abschrecken. Der Zuspruch der Einwohner von Dölitz gab ihm Recht. Das Echo erst recht: Die Idee hat auch in anderen Stadtteilen Echo gefunden. “Das wollen wir auch haben”, hört man.Die Einwohner von Knauthain und Umgebung haben es bekommen. In Rot eingebunden, damit man die Lebensbilder aus ihrem Stück Welt nicht mit denen aus Dölitz verwechselt. Zusammengetragen hat die 23 Lebensgeschichten die Autorin und Lektorin Andrea Nabert. Was Thomas Nabert besonders freut an diesem Abend: Es ist seine Frau. Und zum ersten Mal darf er die Buchpremiere seiner Frau ankündigen, die die Arbeitsmethode von Ekkehard Schulreich zum Vorbild nahm und die Leute besuchte und erzählen ließ. Aus ihrem Leben, ihrem Ort, von ihrer Arbeit und von den Erfahrungen mit dem Eilen der Zeit. Sie haben Bilder aus ihren Fotoalben herausgesucht, erzählen auch von ihren Eltern, die in ihrer Zeit oft Originale waren. Bei der auszugsweisen Lesung geht ab und zu ein zufriedenes Nicken durch die Bankreihen. An manchen der Erwähnten erinnert man sich noch sehr gut. Auch an manches der geschilderten Abenteuer und an die diversen Ecken, in denen man selbst aufwuchs.

Höhepunkt des Abends ist dann der Mann, der den Abschluss macht im Buch, weil er mit V ganz hinten kommt: Hasso Veit. Auch er längst eine Legende, manchen älteren Leipzigern noch bekannt als Hammond-Orgel-Spieler aus dem Kino Capitol. Auch Karl Albani erinnert sich. Als Theologiestudent hat er die Sphärenklänge noch gehört. Und an den Abschiedsgruß erinnert er sich auch noch: “Es unterhielt Sie Hasso Veit.”

An diesem Abend gibt der Mann, der einst extra in den Westen reiste, um sich seine erste eigene elektronische Orgel selbst zu bauen, ein richtiges Konzert, spielt die komplette Tastatur aus, die auch den Stimmumfang großer Orgeln hergibt. Er kommt von einem Weihnachtslied zum nächsten, lässt mal die Bässe dröhnen und mal die Glöckchen klingeln. Ein Mann voller Melodien, die er – über seine Orgel gebeugt – nacheinander abruft. Danach wollen die Gäste des Abends noch eine Zugabe.

So, wie es zu jeder Lebensgeschichte im Buch eine Zugabe gibt.

Und wie es wohl auch zu diesem Band eine Zugabe geben wird. Denn nach diesem Band dürften die Leute aus den Orten “hinter den Pappeln” erst recht neugierig geworden sein. Nichts führt den Lesern deutlicher vor Augen, wie lebendig ein Ort ist, wie so eine Sammlung von Lebensgeschichten. Und erzählt werden müssen sie, da hat Karl Albani Recht. Denn all das findet man nicht im oft so falsch verstandenen Internet. Und in Archiven erst recht nicht, den Orten, an die die Historiker meistens erst finden, wenn der Staub zentimeterdick liegt und die Ereignisse so lange her sind, dass sie keinen Lebenden mehr aufregen. Ein schönes Wort sagt Thomas Nabert dazu: “Archive sind die Bunker der Bürokratie und nicht die Bunker des Lebens.”

Der Feuilletonist Richard Christ hätte an der Stelle gesagt: “Immer fehlt was.” Und die Historiker wissen, was dann meistens fehlt. Die bürokratischen Daten haben sie – aber das Wichtigste fehlt: das Leben der Menschen hinter den trockenen Zahlen. Das Eigentliche.

Und so wird Karl Albani wohl Recht haben, wenn er frohgemut ausruft: “Ich bin mir sicher, es wird eine Fortsetzung dieser Erzählreihe geben.”

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar