„Ich sende Ihnen in der Anlage ein Gedicht, das ich vor 3 Jahren geschrieben habe, unter dem Eindruck eines Heimwegs mit dem Fahrrad quer durch die weihnachtliche Innenstadt“, schreibt uns Daniela Neumann. „Es kam mir wieder in den Kopf, weil ich letzte Woche mit ganz anderen Gefühlen durch die nun am frühen Abend doch sehr ausgestorbene Innenstadt ging und wieder ein Gedicht zu den aktuellen Gefühlen verfasste.“

„Da rührte mich die Erinnerung an die Vergangenheit doch sehr an. Abgesehen von dem Schluss, der doch heute so erschreckend wahr geworden ist“, schreibt sie. „Vielleicht geht es Ihnen ähnlich und Sie könnten sich vorstellen, den Text mit den Lesern der Zeitung zu teilen. Dann stelle ich ihn gern dafür zur Verfügung.“

Die Absage des Leipziger Weihnachtsmarktes 2020 aufgrund der Corona-Schutzverordnung gab es am 3. November.

Aber das Gedicht wollen wir Ihnen natürlich nicht vorenthalten. Es ist fast der gesamte Leipziger Weihnachtsmarkt drin, wie wir ihn kannten.

Leipziger Weihnachtsmarkt

Daniela Neumann

Die letzte Zuckerwatte gehört der Zuckerbäckerin.
Die Kinder des Tages liegen in ihren Bettchen und träumen vom Weihnachtsmann.

„Hey, wo ist Moni?“
Kollegen zählen durch, wer noch da ist.

„Wir woll‘n nach Haaause“ singt es in der Nikolaistraße,
gen Bahnhof stolpernd.

Die gebrannten Mandeln riechen so süß,
dass einem die Zähne weh tun.
Der Heidelbeer-Glühwein riecht nach Vanillecreme.

Die Riesenpyramide ist offen für alle.
Einmal Motel One für 69 Euro
– mit Weihnachtsmarktblick.

Das Schuhmachergässchen zieht mich unter sein Lichterkettendach.
Ich würde gern freihändig fahren,
aber ich bin vernünftig.

Der Löwenbrunnen auf dem Naschmarkt ist unsichtbar geworden.
Statt Wasser fließt jetzt Met.
Das Ordnungsamt leuchtet neongrün
hinter dem Glühwein für einen guten Zweck hervor.

„Das Holzbrett brauchen Sie nur mit einem feuchten Lappen abwischen!“
„Haben Sie gestern Abend vielleicht ein Paar Handschuhe gefunden?“
„Willste mal kosten?“
„Also ich hab jetzt alles.“
Heureka!
Die Kassen klingeln.

Der Nachtwächter bremmelt.
Touristen schauen verträumt.
Das Alte Rathaus sieht alt aus, aber im Dunkeln sieht das zum Glück keiner.
Der Fotoweihnachtsmann stapft von dannen und zählt die Tage:
„Jetzt komme ich noch 3x und dann nimmermehr…“

Aus der Kirche kommen Leute
chorbeseelt.
Ich weiß, wie das ist,
und es tut mir sehr leid,
dass meine Klingel so schreit:
Entschuldigen Sie bitte, Sie laufen auf der Straße!

Der alte Bach ist zugeholzt.
Das hat es früher nicht gegeben.
Die Promenaden waren Leipzigs Stolz,
hier pulsierte einst das Leben!

St. Thomas läutet auf Wiedersehen.
Ich trete schneller in die Pedale.
Ich will nach Hause, die Gedanken aufschreiben.

Es könnte ja sein,
dass es nächstes Jahr
ganz anders ist.

Daniela Neumann, 20.12.2017

Leipziger Zeitung Nr. 85: Leben unter Corona-Bedingungen und die sehr philosophische Frage der Freiheit

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