Wer sucht, der findet zuweilen Dinge, die verblüffen. So geht es Thomas Fritzsch, der sich in den letzten Jahren so intensiv mit der Geschichte der Viola da Gamba beschäftigt hat und mit dem Schaffen Carl Friedrich Abels und Georg Philipp Telemanns. Gerade erst hat er als kleine Sensation die „12 Fantaisies pour la Basse de Violle“ von Telemann wieder ans Licht der Welt gebracht. Nun lässt er den nächsten Telemann folgen, den geschäftstüchtigen Verleger.

Geschäftstüchtig war dieser Telemann wie kein zweiter in seiner Zeit. Die Leipziger kennen ja die Kamelle, wie er als aussichtsreichster Kandidat 1723 für das Kantorenamt gehandelt wurde und es nachher so aussah, als hätte der Rat mit Johann Sebastian Bach einen zweitrangigen Mann genommen, weil die erstrangigen alle abgesprungen waren. Eine Geschichte, über die sich John Eliot Gardiner in seinem großen Bach-Buch, das er am 4. November im Alten Rathaus vorstellt, gar nicht groß aufregt. Denn im Gegensatz zu den meisten Plappertaschen, die die Leipziger Geschichte erzählen wie ein buntes Potpourri des Hörensagens, hat Gardiner sich auch mit den Musikussen der Bach-Zeit beschäftigt und kann erklären, warum Leute wie Telemann sich überhaupt in Leipzig bewarben, denn da war Telemann ja schon Director Musices in Hamburg. Was heute den Leipzigern meist nichts sagt. Aber Hamburg war damals auch als Musikstadt drei Nummern größer und bedeutender als Leipzig. Wer dort Kantor und gar Musikdirektor wurde, der hatte es geschafft. Höher hinauf ging es nicht im damaligen Deutschland, wenn man nicht unbedingt an einen Fürstenhof wollte als Kapellmeister. Außer bei Geld. Und für Gardiner ist ziemlich klar, dass sowohl Telemann wie auch die anderen „erstrangigen“ Musiker sich auf das frei werdende Kantorenamt in Leipzig nur bewarben, um für sich selbst bessere finanzielle Konditionen dort herauszuschlagen, wo sie ansonsten gute Arbeitsbedingungen hatten.

Das war eine Freiheit, die der hoch ambitionierte Johann Sebastian Bach nicht hatte. Aber in welche Malaisen er sich damit stürzte, das erzählen wir in Kürze, wenn wir Gardiners Buch hier vorstellen. Die Kamelle mit dieser „erstrangigen“ Telemann-Bewerbung haben wir nur erzählt, um den Mann ein wenig zu beschreiben, der damals als der berühmteste und wichtigste Komponist in deutschen Landen galt. Das war Telemann auch aufgrund seiner großen Produktivität und durch sein Gespür für den Musikmarkt, den es damals schon gab, auch wenn man natürlich nirgendwo Schallplatten oder CDs mit Telemanns Musik kaufen konnte.

Aber die emsige Forschung von Thomas Fritzsch hat ja auch zutage gefördert, wie weit verbreitet die Hausmusik damals nicht nur in adeligen, sondern auch in bürgerlichen Familien war. Selbst gemachte Musik gehörte zum Alltag der Menschen. Und – auch das findet man bei Gardiner sehr lebendig erzählt – ihre musikalische Welt änderte sich. Für damalige Verhältnisse sogar rasend schnell. Heute würde man bei dem Tempo wahrscheinlich nervös werden. Die sehr getragene Barockmusik des 17. Jahrhunderts erlebte immer neue Einflüsse vor allem aus Italien und aus Frankreich. Die Oper begann sich zu einem populären Genre zu entwickeln. Übrigens ein Punkt, an dem Leipzigs Konservatismus in dieser Zeit sehr deutlich wird, wenn Gardiner erzählt. Leipzigs Oper hat zwar 1993 toll und kühn 300 Jahre gefeiert. Aber in Wirklichkeit war das reineweg geschwindelt. Das erste Opernhaus hatte nach massiven Verlusten und der Unmöglichkeit, es finanziell am Leben zu erhalten, schließen müssen. Zu Bachs Zeit gab es in Leipzig keine Oper. Stattdessen verwahrten sich die Perückenträger des Rates gegen all die vermaledeiten Operneinflüsse, die in die Gottesdienstmusik einzusickern drohten. Ja nicht! Leipzigs reiches Bürgertum war stockkonservativ und streng orthodox.

Telemann hat wahrscheinlich nicht einen Moment daran gedacht, die Bewerbung in Leipzig in irgendeiner Weise ernst zu meinen. Das Hamburger Opernhaus hingegen florierte. Hamburg war Weltstadt. Und wer hier Musik machte, egal ob für die Kirche oder für die Oper, der konnte auf ein musikinteressiertes Publikum rechnen. Auf eins, das nicht nur Textbüchlein kaufte wie die Leipziger, sondern ganze Partituren. Vielleicht nicht gleich die für ganze Opern und Passionen. Das wagte auch ein Telemann nicht. Aber sämtliche Musikstücke, die er auch für Aufführungen im häuslichen Kreis geeignet hielt, die veröffentlichte er für ein kaufinteressiertes Publikum. Dazu gehörte dann auch 1727 die Veröffentlichung ausgewählter Arien aus seinen Arbeiten für die Kirche als Separatdruck für den Hausgebrauch. Das ist dann sozusagen aufs Private reduzierter musikalischer Gottesdienst – die großen Chöre und Orchesterstücke, die die Kirchenmusik zum Gemeinschaftserlebnis machten, fehlen. Dafür fand der Interessierte in dieser „Hauspostille“ Stücke, die mit den einfachen Mitteln, die ein gut ausgestatteter Bürgerhaushalt hatte, jederzeit nachspielbar waren.

Was nicht ausschließt, dass sie beim ersten Eindruck befremdlich wirken. So ging es auch Thomas Fritzsch. Und auch Gardiner, als er sich mit den Bachkantaten eingehender beschäftigte. Denn Telemann wie Bach hatten es noch immer, trotz aller Neuerungen, mit einer Welt der Frömmigkeit zu tun, die tief im Alltag der Menschen verankert war – zudem in Form einer zutiefst lutherschen Frömmigkeit (obwohl man natürlich nicht weiß, ob Luther das auch so gesehen hätte), eng an die Bibel angelehnt. Die Kirchenbesucher wurden nicht nur in den Predigten, sondern auch in den Kirchenmusiken immer wieder mit Bibelstellen, Heilsgeschichte und einer allumfassenden Gewissheit konfrontiert, dass Tod und Sünde zum Leben gehörten und nur ein gnädiger Gott dem gläubigen Menschen zur Rettung verhalf. Da darf man sich auch von tänzerischen Anklängen (die auch in diesen Telemannschen Arienbearbeitungen auftauchen) nicht täuschen lassen. Das Spiel mit dem Opernhaften, dass die gestrengen Honoratioren so verachteten, hatte wenig mit der Gefahr verspielter Mozartliedchen zu tun, mehr mit einer anderen Haltung zum Gläubigsein: die emotionale Aneignung des Glaubens prallte auf die verinnigte Gläubigkeit der etablierten Kirchenmusik. Und Pfarrer hatten – vielleicht zu Recht – Angst, die Gläubigen könnten in einer lebendigen Kirchenmusik mehr Erbauung finden als in ihren moralisierenden Predigten.

Was aber trotzdem nicht ausschließt, dass auch die Bürger der damaligen großen Städte (und nicht nur in Hamburg) daheim trotzdem den familiären Gottesdienst pflegten, aber halt nicht wie die Pietisten über die aufgeschlagene Bibel geneigt und innigst vertieft, sondern mit Instrumenten und in trauter Runde. Dafür hatte Telemann extra die Instrumentalbesetzung reduziert. Und wie sich das angehört haben könnte, das lassen hier Thomas Fritzsch mit seiner Viola da Gamba, Klaus Mertens als Bassbariton und Stefan Maass mit der Barocklaute hören. Und weil es auch Orgelpassagen gibt, sind die drei zusammen mit Michael Schönheit im Februar in die Kirche „Zur frohen Botschaft“ in Berlin-Karlshorst gefahren, wo die einst für die preußische Prinzessin Anna Amalia gebaute Orgel nach vielen Irrfahrten gelandet ist. Anna Amalia war die jüngste Schwester Friedrichs II., der, wie man weiß, ebenfalls musikalisch interessiert war. Anna Amalia spielte nicht nur auf dieser echten Barockorgel, sie komponierte auch. Und sie war die Mäzenin von Carl Philipp Emanuel Bach, dem Bach-Sohn, der in Preußen seine Karriere machte.

In der Einspielung von neun Hausandachten, die Thomas Fritsch aus Telemanns Arienauszügen zusammengestellt hat, wird natürlich deutlicher, was Fritzsch anfangs so irritierte. Denn die Arien funktionieren in diesem Extrakt natürlich anders als im Gesamtzusammenhang der Kirchenmusik, wo sie ja im Ursprung immer nur als Bekräftigung des von der Kanzel verkündeten Wort Gottes gedacht waren. Sie beziehen sich immer auf konkrete Bibelstellen und die zeitgenössischen Interpretationen, die uns heute sehr fremd geworden sind. Diese tiefe Reue, Klage und Trauer sind uns suspekt geworden, vor allem, weil wir auch Tod und Not aus unserem Alltag verbannt haben. Selbst Kriege scheinen uns nicht mehr aufzuregen, wirken wie Inszenierungen fürs Pantoffelkino, obwohl die Not dort, wo getötet wird, genauso groß ist wie in der Zeit des 30-jährigen Krieges. Die Menschen des frühen 18. Jahrhunderts, das ja gerade erst am Übergang war zur kommenden Aufklärung und gern mit dem Titel „Frühaufklärung“ bezeichnet wird, kannten die Nöte des menschlichen Daseins noch aus eigenem Erleben. Der Tod von Kindern gehörte zum Familienleben, Frauen starben meist sehr früh, Seuchen bedeuteten auch in den stolzen Städten des Barock noch immer eine Gottesgeißel, Krieg und Brand sowieso. Aber selbst heftige Naturereignisse wie fürchterlich kalte und lange Winter, Trockenheit und zerstörte Ernten führten immer wieder zu Teuerungen und Hungersnot. Das alles war im Leben der Menschen präsent.

Deswegen verblüfft es gar nicht, wenn gerade die Anrufungen Gottes als der, der alles wachsen lässt und den Menschen ihre Gaben reifen lässt, besonders plastisch erscheinen. Ebenso wie die Gesänge aus Dankbarkeit, dass Gott (nicht nur im materiellen Sinne) den armen Mensch satt und reich macht. Das war noch echte Dankbarkeit – die die Bitte darum, dass der Allwaltende auch künftig für die Seinen sorgen werde, gleich mit einschloss.

Da taut man selbst als Neuzeitmensch so richtig auf, obwohl das Tempo dieser Stücke ein höchst andächtiges ist. Hier rockt nichts. Stattdessen wird die tiefe Gewissheit hörbar, wie sehr der Mensch auf die große Gnade angewiesen ist. Was natürlich den Zweifel nicht ausschließt. Auch das ging ja nicht nur Bach so oder Luther. Wer immer so dicht am Abgrund lebt und um die allgegenwärtigen Gefährdungen weiß, der hat es schwer, die obligate Gemütsruhe zu finden. Der hadert – natürlich mit Gott. Und er kämpft mit seinen Teufeln. Es ist eben nicht ganz so einfach, ein in sich ruhender Gläubiger zu sein, wenn man immerfort erlebt, dass gar nichts sicher ist. Und dass Telemann diese ausgewählten Arien tatsächlich verkaufen konnte und sie auch in anderen Teilen Deutschlands Verbreitung fanden, erzählt eigentlich alles über die tief verwurzelte Frömmigkeit dieser Zeit. Die dann irgendwie verschwunden zu sein scheint, so sehr, dass diese Einspielungen hier wie der Besuch in einer Welt wirken, die es nicht mal mehr in den Geschichtsbüchern gibt. In der gespeicherten Hausmusik von heute schon gar nicht, wo es gar nicht laut und schrill genug zugehen kann. Womit auch ein Zipfel jenes vergangenen Verständnisses von Musik wieder greifbar wird, die Komponisten wie Telemann durchaus noch als Zugang diente zu Besinnlichkeit und Andacht.

„Telemannsche Hauspostille“, Rondeau Production, Leipzig 2016, Bestellnummer CDROP6124, EAN Code 4037408061247

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