Erfolg für die JN vor dem Bundesverfassungsgericht. Der für den 16. Oktober 2010 geplante Großaufmarsch in Leipzig hätte nicht auf eine stationäre Kundgebung reduziert werden dürfen. Begründung: Die zuständigen Verwaltungsgerichte haben geschlampt. Laut Anmeldung wollten am 16. Oktober 2010 insgesamt 600 Neonazis in der Messestadt einen Sternmarsch durchführen. Dieser sollte aus drei Aufmärschen und einer zentralen Abschlusskundgebung bestehen.

Aufgrund eines polizeilichen Notstands machten Ordnungsamt und Polizei den Kameraden einen Strich durch die Rechnung. Die etwa 800 Teilnehmer durften sich schlussendlich nur zu einer Standkundgebung am Hauptbahnhof sammeln. Die Ordnungshüter hatten zuvor angegeben, aufgrund der zu erwartenden Ausschreitungen 44 Hundertschaften zu benötigen. Aufgrund anderer Ereignisse im Bundesgebiet stünden allerdings lediglich 29 Einheiten zur Verfügung. Verwaltungsgericht und Oberverwaltungsgericht bestätigten die Einschätzung der Behörden.

Die Karlsruher Richter machten ihren sächsischen Kollegen jetzt einen Strich durch die Rechnung. Der heute veröffentlichte Beschluss liest sich wie eine schallende Ohrfeige für die hiesige Verwaltungsgerichtsbarkeit. Verwaltungsgerichte müssten zum Schutz von Versammlungen, die auf einen einmaligen Anlass bezogen sind, schon im Eilverfahren durch eine intensivere Prüfung dem Umstand Rechnung tragen, dass der Sofortvollzug der umstrittenen Maßnahme in der Regel zur endgültigen Verhinderung der Versammlung in der beabsichtigten Form führt. Soweit möglich ist als Grundlage der gebotenen Interessenabwägung die Rechtmäßigkeit der Maßnahme in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht nicht nur summarisch zu prüfen. Ist dies nicht möglich, hätten die Fachgerichte jedenfalls eine sorgfältige Folgenabwägung vorzunehmen und diese hinreichend substantiiert zu begründen.
Diese hohen Maßstäbe hätten Verwaltungs- und Oberverwaltungsgericht nicht eingehalten. Das Verwaltungsgericht habe bereits nicht hinreichend deutlich dargelegt, ob seiner Auffassung nach von der Neonazi-Demo selbst eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht oder ob diese Gefahr ausschließlich aufgrund der zahlreichen Gegendemonstrationen und den hieraus zu erwartenden Störungen der Versammlung besteht. Auch die tatsächlichen Feststellungen im Hinblick auf einen etwaigen polizeilichen Notstand entsprächen nicht den Anforderungen an die intensivere Rechtmäßigkeitsprüfung, die bereits im Eilverfahren geboten ist. Die kurzfristige Änderung der polizeilichen Gefährdungsanalyse, die sich nicht ohne weiteres erschließt, hätte das Verwaltungsgericht veranlassen müssen, substantiierter zu prüfen und eine genauere Begründung zu verlangen. Es hätte auch dezidierterer Feststellungen bedurft, aufgrund welcher konkreter Gefahren für die öffentliche Sicherheit und aufgrund welcher konkreter vorrangig zu schützender sonstiger Veranstaltungen keine ausreichenden Polizeikräfte mehr zum Schutz des rechten Aufmarschs und der Rechtsgüter Dritter zur Verfügung gestanden hätten.

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Das Oberverwaltungsgericht habe zwar deutliche Bedenken gegen das Vorliegen eines polizeilichen Notstandes und gegen die kurzfristige Änderung der polizeilichen Gefährdungsanalyse geäußert. Auch erscheint es nachvollziehbar, dass dem Oberverwaltungsgericht die hier grundsätzlich gebotene Rechtmäßigkeitskontrolle der behördlichen Auflage in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit nicht mehr möglich war. Allerdings hätte es dem Oberverwaltungsgericht in dieser Konstellation, um der Freiheitsvermutung zugunsten der Versammlungsfreiheit zumindest in der Sache Rechnung zu tragen, oblegen, eine besonders sorgfältige Folgenabwägung vorzunehmen und diese in der Begründung seiner Entscheidung hinreichend offenzulegen.

Was folgt aus dem Beschluss? Jedenfalls nicht die Wiederholung des 16. Oktobers 2010. Zeitreisen sind bislang nicht erfunden. Allerdings werden nicht nur die sächsischen Verwaltungsgerichte künftig strenge Anforderungen an die Untersagung von Demonstrationen zu stellen haben. Diese müssten sich, folgt man der Logik der Verfassungsrichter, auf konkret zu benennde Gefahrenherde stützen. Ein abstrakt herbei konstruiertes Gefahrenszenario dürfte in Zukunft der richterlichen Überprüfung kaum mehr Stand halten.

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