Die Daten sind nicht neu. Dutzende Geschichten hat die L-IZ in den letzten Jahren allein zur Kinderarmut geschrieben. Die Stadt versucht schon seit geraumer Weile, das Problem nicht nur zu beleuchten, sondern auch Lösungen zu finden. Jetzt hat auch die Bertelsmann Stiftung das Thema dorthin gezogen, wohin es gehört: auf die große Bühne.

Denn Kinderarmut ist nicht nur ein Leipziger Problem. Auch wenn Leipzig besonders darunter leidet. “Dass in Sachsen fast jedes vierte Kind in Armut lebt, ist eine Schande, gerade, weil sich das Land gern mit einer wirtschaftlichen Vorreiterposition brüstet”, erklärt Elke Herrmann, sozialpolitische Sprecherin der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zu der am Freitag, 8. April, von der Bertelsmann Stiftung vorgestellten Studie.

Doch der Sachsen-Vergleich verengt auch den Fokus. Der Freistaat ist im deutschen Vergleich weder Vorreiter noch Ausnahme. Das Problem hat mittlerweile die gesamte Bundesrepublik erfasst. Wobei auch das Wort “mittlerweile” eingeschränkt werden muss: Die Zahlen stammen von 2008. Und natürlich sind sie Ergebnis der so genannten Arbeitsmarktpolitik, die unter Schwarz-Gelb und Rot-Grün praktiziert wurde. Der Absturz vieler junger Familien in die Bedürftigkeit hat mit miserablen und prekären Verdienstmöglichkeiten zu tun. Das Phänomen, dass gerade die jungen Familiengründer besonders schlecht bezahlt werden, ist kein ausschließlich Leipziger Phänomen. Auch kein sächsisches, auch wenn das niedrige Lohnniveau im Freistaat bis heute als “Standortvorteil” verkauft wird. Ein Standortvorteil, den jedes vierte Kind in Sachsen mit miserablen eigenen Lebenschancen bezahlt.

Die diversen Arbeitsmarktreformer dürfen sich auf die Schultern klopfen. Sie haben erreicht, was sie wollten: Eine Umverteilung auch der erwirtschafteten Reichtümer von unten nach oben. Und den bravourösen Effekt einer sinkenden Arbeitslosigkeit gekoppelt mit wachsender Armut.

Deutschlandweit. Auch wenn der deutsche Osten mit seiner organisierten Strukturschwäche auch hier die Hauptlast zu tragen hat. Die Kinderarmutsquote, die die Bertelsmann Stiftung hier herangezogen hat, ist schlicht der Anteil der Kinder unter 15 Jahren, die Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II beziehen, also in so genannten “Bedarfsgemeinschaften” leben.

Besonders betroffen sind zwei Großstädte: Berlin (mit einer Quote von 35,7 Prozent) sowie Bremen mit 30 Prozent. Was nicht überraschend ist, denn die Metropolen sind nicht nur die großen Arbeitgeber der Nation – sie tragen auch den größten Teil der Sozialversorgung. Das ist nicht neu. Doch das haben nicht einmal die einschlägigen Ministerpräsidenten begriffen. Entsprechend hängen denn auch eben diese beiden Stadtstaaten am Tropf des nationalen Finanzausgleichs – mit entsprechend heftiger Kritik aus der reichen Provinz.

Dass das Ganze ein Problem der Großstädte ist, zeigt selbst das Bundesland mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen: Hamburg. Die reiche Hansestadt kommt in diesem Ranking gleich hinter Sachsen-Anhalt (30 Prozent), Mecklenburg-Vorpommern (28,3 Prozent), Sachsen (24,1 Prozent) und Brandenburg (23,2 Prozent) mit einer Kinderarmutsquote von 23 Prozent. Eine deutliche Botschaft: Der wachsende deutsche Reichtum kommt einem wichtigen Teil der Gesellschaft nicht mehr zugute. Die Ausgleichsprozesse funktionieren immer weniger.

Hinter Hamburg folgt Thüringen (22,1 Prozent) vor den westdeutschen Flächenländern Nordrhein-Westfalen (17,2 Prozent), Schleswig-Holstein (16,2 Prozent), dem Saarland (15,9 Prozent), Niedersachsen (15,6 Prozent), Hessen (14,6 Prozent) und Rheinland-Pfalz (12,1 Prozent). In Baden-Württemberg (8,3 Prozent) und Bayern (7,4 Prozent) ist Kinderarmut etwas seltener anzutreffen.Aber eine Erkenntnis bleibt: Die Lösung müsste eine Gemeinschaftsaufgabe sein. Ist sie aber nicht. Mit den Sorgen bleiben die Städte im Grunde auf sich gestellt.

“In den Kommunen gibt es einen großen Handlungsdruck”, sagte Vorstandsmitglied Dr. Brigitte Mohn von der Bertelsmann Stiftung bei der Veröffentlichung der Analyse. “Oft geht das Aufwachsen in schwierigen sozialen Umfeldern und das Leben in Armut mit sozialer Ausgrenzung der Kinder und schlechten Bildungschancen einher. Hinzu kommt die angespannte Finanzsituation der Kreise, Städte und Gemeinden, die kaum noch Spielräume für gezielte Hilfen haben.”

So sind die Ausgaben für soziale Leistungen in den Jahren zwischen 2005 und 2010 von 35,4 auf 42,2 Milliarden Euro (+ 19 Prozent) angestiegen. Damit geben die Kommunen bereits 23,3 Prozent ihrer Budgets für Soziales aus. Die Ausgaben für Kinder- und Jugendhilfe stiegen zwischen 2006 und 2009 von 20,9 auf 26,9 Milliarden Euro. Davon entfielen allein 5,5 Milliarden Euro auf die Hilfen zur Erziehung für Minderjährige (z. B. in Tagesgruppen, Heimen oder betreuten Wohnformen). Diese stiegen gegenüber 2006 und damit innerhalb von nur drei Jahren um 1,2 Milliarden Euro bzw. 27 Prozent.

“Damit haben die Kommunen die finanziellen Grenzen zur Verbesserung der sozialen Lage von Kindern und Jugendlichen erreicht”, sagte Mohn. Mit einem weiteren Anstieg der Sozialausgaben drohe vielen Kreisen, Städten und Gemeinden die Schuldenfalle.

Trotzdem kürzt auch ein Freistaat Sachsen im Sozialbereich drauflos, als wären ihm die Städte und vor allem die Kinder egal. Sind sie wahrscheinlich auch.

Auch innerhalb der Bundesländer differieren die Werte natürlich. Je nachdem, wie kinderreich eine Kommune ist, ob es eine Großstadt ist oder ein reicher Umlandkreis. Die Werte schwanken deutschlandweit zwischen 2 und 38 Prozent. Und hier führt einmal nicht Leipzig die Tabelle an, sondern Schwerin (38,3 Prozent) vor Bremerhaven (37,3 Prozent) und Rostock (34,6 Prozent). Auch einige Landkreise rangieren noch vor Leipzig: Uecker-Randow (36 Prozent), Uckermark (35,9 Prozent) und Stendal (34,5 Prozent) zum Beispiel.

In Sachsens kreisfreien Städten war in Leipzig der Anteil der in armen Familien lebenden Kinder mit 33,4 Prozent am höchsten. In Chemnitz lag der Anteil bei 29,7 Prozent, in Dresden bei 22,5 Prozent. Unter den Landkreisen nahm der Kreis Görlitz den ersten Platz ein (30,0 Prozent), gefolgt von Nordsachsen (26,2 Prozent) und Zwickau (22,8 Prozent). Am niedrigsten lag die Kinderarmuts-Quote im Landkreis Leipzig (19,6 Prozent).

“Kinderarmut führt zu sozialer Ausgrenzung und schmälert massiv die Bildungschancen”, stellt Elke Herrmann fest. “Deshalb haben wir die vorgenommenen Kürzungen im Sozialbereich immer abgelehnt, denn davon betroffen sind die Kinder als Zukunftsträger unseres Landes. Ansonsten fordern wir einen stärkeren Ausbau der schulischen Ganztagsangebote sowie verbindliche und nachhaltige Bildungsangebote außerhalb der Schule.”

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Doch der Blick auf die von der Bertelsmann Stiftung eingerichtete Website www.wegweiser-kommune.de zeigt auch: Diese Falschjustierung der Organisation gesellschaftlichen Reichtums untergräbt nicht nur die Chancen der betroffenen Familien und Kinder. Sie beginnt auch schon jetzt, die wirtschaftliche Prosperität des gesamten Landes zu untergraben. Denn die Zwillingsschwester der Kinderarmut ist der Geburtenrückgang.

Auch der hat seine Gründe in wirtschaftlichen Grundparametern und in der simplen Frage: Haben meine Kinder überhaupt eine Chance in dieser Gesellschaft?

Eine durchaus spannende Frage für Demografen: Wie hoch wäre die Quote der Kinderarmut, wenn die Geburtenrate über den so sehnlich gewünschten 2,1 Kindern je Frau läge?

Der Sprung über diese Marke wird im derzeitigen Freistaat Sachsen natürlich nicht passieren. Ein Land, das weiter Schulen schließt, einen echten Lehrermangel riskiert, sich Stück für Stück aus der Kindergartenfinanzierung zurückzieht und auch die nötigen Investitionsgelder für Schulen, Kindertagesstätten, Sporthallen kürzt, hat nicht wirklich vor, den Hebel umzulegen und das Gründen von kinderreichen Familien zum Ideal zu machen. Um nur ein Detail aus einer Politik herauszugreifen, die zwar viel von demografischen Entwicklungen redet, aber die Ursachen mit salomonischem Lächeln schlichtweg negiert.

Die Studie der Bertelsmann Stiftung findet man unter: www.bertelsmann-stiftung.de

Die Sonderseite zur (demografischen) Zukunft der Kommunen findet man hier: www.wegweiser-kommune.de

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