Am Nachmittag kriegt mich der Regen doch. Es tröpfelt unaufhörlich, in der Ferne höre ich immer wieder Donnergrollen. Zusammen mit Ingolf Bauer pilgere ich nahezu ungestört durch Großzschocher. Ist Großzschocher trist wegen des Wetters oder ist es immer trist? Unser Treffpunkt ist die Eisenbahnbrücke kurz vor der Brückenstraße. Hier, wo früher eine Holzbrücke stand, von der Menschen direkt in die Elster gesprungen sind, rauscht nun hin und wieder ein Zug entlang.

Gaschwitz, Markkleeberg, Plagwitz sind seine Stationen. Nicht weit von hier hat sich einst eine Menge Schutt aufgetürmt, alles nun verwachsen und begrünt. Der Großzschochersche Scherbelberg ist allerdings immer noch ein Fremdkörper im Stadtteil, zum Bedauern von Ingolf Bauer.

Bauer, studierter Automatisierungs- und Wirtschaftsingenieur und Marketingmann, sorgt schon seit einiger Zeit als Alleinunterhalter für gute Stimmung und besingt unsere Stadt in den Leipz’ger Lumpenliedern. Dass in Großzschocher im Allgemeinen und auf dem Scherbelberg im Speziellen nichts passiert, kann er nicht verstehen. “Am Fockeberg finden beispielsweise Seifenkistenrennen statt. Hier passiert nichts. Dabei wäre es doch mal eine Möglichkeit, Leben in den Stadtteil zu bringen.”

Als Kind hat er selbst neben der Eisenbahnbrücke gebadet. “Das ging bis in die 60-er Jahre, bis wir mit Bärten aus dem Wasser kamen…”Unser Weg führt uns in den Schlossgarten. Ja, Großzschocher hatte mal einen. Bis 1945. Dann war er zerbombt. Seine Tradition geht bis tief ins Mittelalter zurück. Besitzer waren die Ritter Pflugk, die Dieskaus und zuletzt die Grafen von Wedel. Im alten Schlosspark ist es dunkel, wir sind ziemlich allein in diesem grünen Kleinod. Immerhin hat der Regen wieder aufgehört. Nach dem Krieg sollte der Park wieder in Gang gebracht werden. “Es gab mal eine Initiative von der ortsansässigen Schule”, erzählt Bauer, “mein Sportlehrer war mit dabei.” Die wollten hier eine 100- Meter-Laufbahn anlegen, ein Schwimmbecken. Die Schule war sehr aktiv.” Doch der Schlosspark ist immer noch ein Rest, ein Rest vom Schloss, dessen letzte Wände von Bäumen überwachsen am Rande des Parks liegen.

Die letzten Besitzer des Schlosses würden ihr Großzschocher sowieso nicht mehr wiedererkennen. Selbst Ingolf Bauer ist es zeitweise sehr fremd. “In der Dieskaustraße war früher richtig was los, da war Laden an Laden. Heute kann jeder sehen, was dort los ist. Nichts.” Ein Kino gibt es schon lange nicht mehr, das Kulturhaus auch nicht mehr, keine Schwimmhalle und Geschäfte gibt es auch immer weniger.” Bauer ist darüber verärgert und beklagt darüber hinaus, dass die Gewerbetreibenden nichts gegen dieses Dilemma tun. “Ich war bei einigen Inhabern und habe bei ihnen vorgesprochen. Meine Idee war eine regelmäßige Veranstaltung, die in immer anderen Geschäften stattfindet. Doch da tat sich nichts”, so Bauer enttäuscht.Vom Bürgerverein soll auch wenig Initiative kommen, er kümmert sich immerhin um das Körnerhaus. Zwischen Buttergasse und Schlosspark steht es am unteren Ende der Huttenstraße. Heute hat es zu. Nach dem Schillerhaus in Gohlis soll es das zweitälteste Wohnhaus Leipzigs sein. Doch was hat es mit Theodor Körner zu tun? “Er soll hier gewohnt haben, möglicherweise allerdings nur einen Tag während der Völkerschlacht”, erklärt mir Bauer.

Nur wenn jemand vom Bürgerverein da ist, hat es geöffnet. Passt irgendwie in das Bild, was ich von Großzschocher bekomme. “Der Stadtteil hat als Anrainer an den Cospudener See und seinen dörflich-städtischen Charakter unbestritten Potential, aber irgendwie passiert trotzdem nichts.” Wir stehen an der Ecke Brückenstraße/Buttergasse. Autos Richtung Cossi oder Dieskaustraße fahren achtlos an einer Ecke vorbei, wo früher Karussells standen und sich die Jugend traf. “Mein Vater erzählte mir mal davon”, so Bauer. Das ist lange vorbei. Der Platz ist zugewuchert und bei dem Autolärm kann man sich auch kaum verständigen.

Zusammen mit weiteren Mitstreitern hat Musiker und Alleinunterhalter Bauer vor einigen Jahren den Windorfer Abend aus der Taufe gehoben. Der findet immer am ersten Donnerstag in den ungeraden Monaten statt und ist quasi eine Unterhaltungskultur-Talkshow für die Anwohner. Bauer lädt regelmäßig drei bis vier Gäste zu einem bestimmten Themenkomplex ein. “Ein enormer Aufwand”, wie er selbst eingesteht. Und alles nur, damit in Großzschocher-Windorf etwas kulturelles Leben herrscht.

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Nach einem kurzen Spaziergang über die blechbefahrene Dieskaustraße erreichen wir Windorf auch. Das Donnergrollen wird wieder deutlicher. Der Himmel will einfach nicht aufhellen, aber noch verschont er uns mit erneutem Regen. “Es wird nicht besser, da kommt noch was”, ist sich Bauer sicher. In Windorf herrscht angenehme Ruhe. Auf der Dorfstraße, die ich so das erste Mal sehe, hört man wenig vom Autolärm der Dieskaustraße. Der Ort soll seinem Namen vom Weinanbau haben. “Der soll auf dem Hang angebaut worden sein, wo heute die Insektensiedlung steht”, erzählt Bauer. Schön ist es hier jedenfalls trotz schlechten Wetters, so richtig dörflich eben, obwohl nur 50 Meter entfernt das Stadtleben in seiner ungeliebtesten Form tobt. Aber auch in dem im 12. Jahrhundert gegründeten Gassendorf treffen wir kaum einen Menschen. An einem Gartenzaun steht ein alter Bekannter von Bauer. Ein kurzes Schwätzchen, dann gehen wir weiter.

Es ist zehn vor halb vier, wir steuern das einst enorm beliebte Naturbad Südwest an. Ein verrostetes Tor, meterhohes Gras. Ein Weg durch Büsche gehauen. “Kurz nach der Wende fanden hier sogar noch Konzerte von Karat und City statt”, klärt mich Bauer auf, “und die Ufer waren ständig voller Badegäste.” Heute ist man froh, wenn man noch einen ordentlichen Weg durch das Dickicht findet. Erst der Kulki und dann der Cossi warben Großzschocher die Badegäste ab. In der alten Gaststätte hat sich ein Bullriding-Verein eingemietet und lagert dort seinen Bestand. “Also hat die auch geschlossen”, stöhnt Bauer. Immerhin surfen noch ein paar Enten über das Wasser. Und wenn es Bauer geahnt hätte: In dicken Tropfen bricht es über uns herein. Während sich Bauer wieder gen Heimat macht, muss ich meinen Weg fortsetzen. Weit ist es ja gar nicht mehr…

Übrigens: Am Donnerstag, 13. September, findet der nächste Windorfer Abend statt.

Mehr über Ingolf Bauer und den Windorfer Abend bei L-IZ.de und im restlichen Internet:

www.igsbauer.de

Wovon Leipziger träumen: Ingolf Bauer, die Musik und das Herz für die vergessenen Randbezirke: www.l-iz.de/Leben/Gesellschaft/2010/12/Wovon-Leipziger-traeumen-Ingolf-Bauer-die-Musik.html

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