Beginnen wir sofort mit einer ungeschönten Wahrheit: Der Totensonntag schafft es einfach nicht in die Top Ten unserer abendländischen Feiertage. Das Wetter meist zu herb für bauchfrei und mal schnell rübermachen nach Sachen-Anhalt zum Schnäppchenausflug ist auch nicht drin. Nein, dieser Tag mit dem Depri-Namen und seinem seltsam aus der Zeit gefallen erscheinenden Tanzverbot bleibt irgendwie ungeil, nicht recht hipp.

Da hilft es auch nur wenig, wenn manche Leute statt Totensonntag Ewigkeitssonntag euphemisieren, in Anbetracht der Beobachtung, dass Ewigkeit für den Großstädter im Jahr 2014 genau jene Zeit darstellt, die man in einer Supermarktschlange verbringt, bis einer entnervt ruft: “Können Sie mal noch ‘ne Kasse aufmachen?”

Wer sich heutzutage mit der Ewigkeit identifiziert, der hat einfach noch immer kein Zeitmanagement-Seminar besucht. Totensonntag hin, Ewigkeitssonntag her – am schlimmsten wirkt die aufgezwungene Ruhe. So wie beim Müllerschlaf, bei dem der Müller sofort erwacht, wenn die Windmühlenflügel ihre Drehtätigkeit einstellen und sich ungewohnte Stille breitmacht, wird der habituelle Happening-Heini am Totensonntag seiner ihm Halt gebenden Geräusch-Konsum-und Party-Dauerschleife entrissen und irrt, auf sich selbst zurückgeworfen, misstrauisch umher.

Aber seien wir nicht ungerecht.

Mit Ruhe wissen wir alle doch kaum noch umzugehen. Ruhe ist gefährlich. Die liegt uns nicht mehr. Was also soll man eigentlich an einem Tag wie Totensonntag nur machen? Der Verstorbenen des vergangenen Jahres gedenken? Da bin ich guten Mutes. Das kriegen die meisten hin, vor allem, wenn es enge Angehörige und Freunde betrifft.
Bei einem Spaziergang (wir erinnern uns – das war dieses Public Viewing ohne Bildschirm) über einen Friedhof zum Beispiel lassen sich genügend Anzeichen dafür erkennen, dass der Mitmensch weder vollkommen verroht noch gänzlich humorlos ist. “Bis morgen!” las ich dort erst heute Vormittag auf einem Grabstein zwischen all den liebevoll geschmückten und mit Tannenzweigen abgedeckten Gräbern und erschrak fast ein bisschen über die Eile dieser freundlichen Grußformel.

An den Rändern unserer sozialen Bindungen jedoch franst das Erinnern gewöhnlich ein bisschen aus. Da googelt das Gehirn schon langsamer. “Ist Mandela nun schon über ein Jahr tot oder nicht?”, scheint es sich zu fragen. “Und wann, verdammt, war denn das mit diesem Schirrmacher, mit Robin Williams und Karl-Heinz Böhm?”

Wenn wir uns aber anstrengen, kommen die Gedanken dann doch ein wenig auf Touren und ranken sich dankbar um Blacky Fuchsberger, Peter Scholl-Latour, Maximilian Schell, Pete Seeger … zuletzt sogar um Kralle Krawinkel, den Gitarristen der Band TRIO … Alles Menschen, die das Leben so vieler bunter, nachdenklicher, heiterer, tiefer, leichter und damit letztlich lebenswerter gemacht haben.

Da kommt einem ein einziger Tag des Erinnerns plötzlich fast ein wenig dürftig vor.

Möglicherweise ist aber diese akribische Trennschärfe zwischen den Lebenden und den Toten gar nicht vonnöten. So weilte ich vor gar nicht langer Zeit auf einem Kindergeburtstag, in dessen Rahmen ein Dutzend Fünfjähriger ausgelassen zu fröhlicher Musik auf Zeitungen tanzte, die mit jedem Aussetzten der Tons um die Hälfte kleiner gefaltet werden mussten. Mitten im größten Trubel tippte mich eine andere Mutter an und sagte leise: “Guck mal, das Gustavchen tanzt auf der Todesanzeige von Udo Reiter!” Halb belustigt, halb erschrocken schauten wir einander in stillem Einvernehmen an. So gegenwärtig war der Tod plötzlich inmitten prallsten Frohsinns. Und was für ein Tod.
Vielleicht ist das jedoch der Schlüssel: In unserem Leben geht es um viel mehr als um die, die noch keinen Totenschein ausgestellt bekommen haben. Es geht immer um die Lebenden UND die Toten.

Immer wenn ein Großer stirbt, wird uns schließlich vor Augen geführt, wie sehr wir uns im Grunde in der Kunst dieser Verbindung verstehen. Sehen wir nur die Nachrufe an. Virtuos, brillant, teils gefühlvoll, teils bereichernd die Reden und journalistischen Lobpreisungen zweifellos einzigartiger Menschen.

Ich frage mich nur: Warum immer erst dann?

Vielfach leben wir mit dem nahenden Tod in unserer Mitte. Mit dahinsiechenden Alten, mit Todkranken, die längst gezeichnet sind. An deren Lebenslinien längst der arge Schnitter seine krakelige Handschrift probt …

Warum aber wartet man mit den – vielfach ganz wunderbaren – Nachrufen? Weil es pietätlos wäre? Weil es sich nicht gehört, die letzte Faser Hoffnung eines Sterbenden mit Nachrufen zu ersticken?
Wenn wir es aber gar nicht Nachruf nennen? Vielleicht kann man jemanden, bei dem die Würmer offensichtlich schon Advent feiern, angesichts der Situation einfach die Liebe erklären, unprätentiös Danke sagen oder schlichtweg am Lebenden schon mal erproben, was mit diesem geschieht, wenn man mit schönen, wohlgesetzten Worten zu umreißen versucht, was dieser für uns ist – ganz so, als könnten Form und Formvollendung etwas ändern am körperlichen Verfall?

Wie “fühlt sich das wohl an”, wenn man einem sterbenden Lebenden sagt, wie sehr man das Leben mit ihm oder seinetwegen genossen hat und ihm gar die Gelegenheit gibt, den eigenen Nachrufen sein eignes Fazit entgegenzurufen? Wenn dieser dadurch plötzlich bevor der letzte Vorhang fällt, sicherer ist, dass sein Auftritt hier auf der Welt keineswegs – wie in schwachen Minuten manchmal düster in Frage gestellt – umsonst war?

Wäre das nicht zumindest einen Versuch wert – jetzt, heute, hier, am Totensonntag?

Eine ungeschönte, weil schöne Wahrheit am Schluss: Am Totensonntag nimmt das Jahr Fahrt auf. Weihnachten ist – in Luftlinie besehen – zum Greifen nah. Das Jahr hat noch 38 Tage. Auf einen Tag ohne Stadtfest mit Musik aus Ufta-Ufta-Boxen kann man sicher verzichten, vielleicht gar auf einige Weihnachtspräsente. Aber sagen wir einander rechtzeitig und laut genug, wie schwer wir von einander beeindruckt sind. Seien wir ein bisschen schneller als der Nachruf! Wer dazu schon ein Glas Glühwein braucht – sei’s drum!

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