15 Uhr und Kolloquium. Ist wahrlich nicht die beste „Sendezeit“ für schwere wissenschaftliche Kost. Dazu noch am Samstagnachmittag. Umso bemerkenswerter, wenn sich Menschen aufmachen, um sich über die Vielseitigkeit eines innerweltlichen Einzelgängers – und das war Schiller zeit seines Lebens, trotz Heirat und 4 Kinder – ein neues, um Aspekte reicheres Bild zu machen. Das ist der Anspruch, wenn es alljährlich und nun schon zum dritten Mal im Mai, dem Sterbemonat des zeitweiligen Sommergastes in Gohlis (1785), heißt: „Schiller aktuell – Leipziger Gespräche zu Friedrich Schiller in Europa heute“.

In würdigem, feierlichen Rahmen werden zunächst im Saal kurze Begrüßungsreden gehalten, Schirmherrschaften übernommen. Museumsdirektor und Kulturbürgermeisterin eröffnen offiziell nach einer ersten Schiller-Rezitation (Cora Chilcott) die Veranstaltung, irgendwo zwischen Konferenz, Festakt und Diskussion. Alles sehr freundlich und gediegen. Dr. Volker Rodekamp dankt für die Organisation dem „Freundeskreis Schillerhaus“, Skadi Jennicke betont in ihrem Grußwort die Notwendigkeit von Kunstvielfalt und lobt das Engagement der Leipziger Bürgergesellschaft. Die Kulturbürgermeisterin ist erstmals Schirmherrin der Veranstaltung. Freundlicher, erwartungsfroher Applaus. Und Goethe steht auch auf dem Sockel gegenüber. Vor der Alten Handelsbörse.

Drinnen im Saal erwarten die etwa 70 interessierten Besucher und Zuhörer Beiträge zum Thema Schiller. „Aktuell“ sollen sie sein, neue Sichten auf den humanistischen Geistesrevolutionär eröffnen, bestenfalls Diskurse anregen zur Frage: Was kann man lernen? Worin bestanden und bestehen die Erkenntnisse dieses Moralphilosophen, der „von Hause aus“ eigentlich Arzt und später Historiker war? Die sind doch über 200 Jahre alt! Was soll aktuell an Schiller sein? Wir fahren keine Kutschen, unsere Balladen nennen sich „Poetry Slam“ und Serien heißen nicht „Kabale und Liebe“ oder „Die Räuber“, sondern „Desperate Housewives“ oder „Game of Thrones“ …

Erster Beitrag: „Schillers junge Männer“. Prof. Dirk Oschmann vom Institut für Neuere deutsche Literatur präzisiert den Titel seines Vortrages. Es geht um die kraftvolle, innere Bewegung der männlichen Protagonisten aus Schillers 4 Jugenddramen: Franz und Karl Moor, Graf Fiesco zu Genua, Ferdinand v. Walther und Don Carlos. Alle jung, alle Anfang 20, alle beseelt von dem Drang nach bürgerlicher Selbstverwirklichung, zwischen selbstüberschätzender Hybris und Grenzen bestehender Gesetze. Oschmann findet die passenden Zitate: „Das Gesetz hat noch keinen freien Mann gemacht, aber die Freiheit brütet Kolosse und Extremitäten aus.“ („Die Räuber“)

Zeigen sie Schiller (Auch Anfang 20, als er diese Dramen schrieb) als revolutionären, bürgerlichen „Schwärmer“, als Idealisten. Klar. Aber eben auch – und das ist eher unbekannt im Land: Als knallharten Realisten. „Das Jahrhundert Ist meinem Ideal nicht reif. Ich lebe. Ein Bürger derer, welche kommen werden“ lässt er den wahren Helden Marquis de Posa in „Don Carlos“ (1787) verkünden. Oschmann geht in seinem Vortrag noch weiter, zeigt Schiller als analytischen Materialisten, vergleicht ihn gar mit Marx, da Schiller massenhafte Ausbeutung und Entfremdung der bürgerlichen Aufklärung folgen sah. Stimmt. In Schillers Zeiten lagen die Anfänge unserer heutigen, modernen. Seine „Ästhetischen Briefe“, die Oschmann zitiert, hören sich gar nicht so alt an.

Schiller 1793: „Auseinandergerissen wurden jetzt der Staat und die Kirche, die Gesetze und die Sitten; der Genuss wurde von der Arbeit, das Mittel vom Zweck, die Anstrengung von der Belohnung geschieden.“ Warum diskutieren wir gerade über Werte, Glauben, Leitkultur? Schiller gibt Antworten, die in dieser Abstraktion und Formulierungskunst einzigartig sind. Zeitlebens haderte er damit: „Gewöhnlich übereilte mich der Poet, wo ich philosophieren sollte, und der philosophische Geist, wo ich dichten wollte.

Noch jetzt begegnet es mir häufig genug, dass die Einbildungskraft meine Abstraktionen, und der kalte Verstand meine Dichtung stört.“ (Schiller an Goethe, 31. 8. 1794) Wir nennen heute sowas Jammern auf hohem Niveau“. Prof. Oschmann schließt mit seinem Vortrag, dass „Die Bezeichnung ‚Idealist‘ im Falle Schillers irreführend sei. Er hat die Welt sehr klar und realistisch gesehen.“ Verdienter Beifall.

Zweiter Beitrag: „Schillers medizinische Dissertation“. Es referiert Dr. med. Hansjörg Rothe, Internist, Nierenspezialist und gleichzeitig Literaturliebhaber, Schillerkenner aus Würzburg. Auch er stellt den modernen Schiller vor, der die Medizin als Philosophie verstand, immer mit dem Bestreben, Menschen als „Doppelsubjekt“, als Synthese aus Körper und Geist zu sehen. „Psychosomatik“ fällt einem dazu heute ein. Rothe nennt Schiller einen „Vorläufer“ der modernen Genetik, zieht eine Entwicklungslinie von Goethes Naturwissenschaften, über Rudolf Virchow bis hin zu Gregor Mendel. Und seinen Gesetzen.

„Zwei-Welten-Lehre“ von der Natur des Menschen. Hochinteressant für den Schiller-Experten, aufschlussreich für den Laien und kulturkritischen Betrachter. Da fehlte nur noch der Dramatiker, möchte man meinen, der ästhetische Erzieher, der Humanist Schiller. Der wird zitiert in seiner „Ankündigung der Rheinischen Thalia“ von 1785. „Das Publikum ist mein Souverän.“ Schreibt Schiller da. Und: „Ich schreibe als Weltbürger, der keinem Fürsten dient.“ Das ist Freiheit, das ist Selbstbestimmung.

Brauchen wir sie nicht gerade heute, die „Weltbürger“?

Dritter und letzter Beitrag: „Schillers Reisen“. Etwas verwunderlich diese Themenwahl, da Schiller bis auf einen kurzen Kuraufenthalt in Karlsbad 1791 aus dem, was man damals Deutschland nannte, niemals herauskam. Ja, er wäre gern in Italien wie Goethe gewesen, hätte den „Tod in Venedig“ geschrieben, hätte das revolutionäre Paris der französischen Republik besucht, dessen Ehrenbürger er 1792 wurde, wäre in den Weiten Russlands Napoléon vorausgeeilt. Wäre, hätte … Schiller war fast zeitlebens knapp bei Kasse, nichts mit Urlaub und Reisen.

So blieb es bei den Vorstellungen der großen, weiten Welt. Dr. Ansgar Bach, Autor und Herausgeber von literarischen Reiseführern, hob dementsprechend auch hervor, dass Schillers Genie im „Imaginieren“ bestand. Ein „Geisterseher“ war er auch. Wussten wir doch.

Fazit: Eine gelungene Veranstaltung auf hohem und gutem Niveau, musikalisch begleitet von Schülern der Musikschule „Johann Sebastian Bach“, stilvoll moderiert von Peter Völker, selbst Schriftsteller und Autor aus Frankfurt a. M., der Geburtsstadt des Mannes auf dem Sockel. Vor der Handelsbörse.

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