Der indische Schriftsteller Pankaj Mishra schrieb in „Zeitalter des Zorns“ nicht zum ersten Mal darüber, warum der Westen die Sorgen, Emotionen und Konflikte im „Rest der Welt“ bis heute nicht verstehen will oder kann. Er hat seine koloniale Vergangenheit einfach vergessen, abgelegt in Geschichtsbüchern in dem irrigen Glauben, Geschichte sei vorbei, wenn man sie nur mal schnell für beendet erklärt.

Doch die koloniale Geschichte des Westens ist auch die nationale Geschichte aller, wirklich aller Schwellenländer und jungen Nationalstaaten. Sie ist ihnen eingebrannt. Und sie brennt noch immer, denn die postkoloniale Ausplünderung der Ressourcen in aller Welt geht ja weiter. Es braucht keine Kolonialtruppen mehr, um den Zugriff auf die Reichtümer der Welt zu bekommen, sondern nur aggressive Konzernpolitik und einen übermächtigen Freihandel, in dem diejenigen die Regeln diktieren, die über das Geld verfügen.

Und das wird auch höchst emotional, wenn sich diese McDonaldisierung der Welt verkoppelt mit einem imperialen Machbarkeitsdenken, von dem sich die westlichen Regierungen bis heute nicht verabschiedet haben. Das wird – darüber schrieb Mishra ja schon 2014 – als Arroganz empfunden. Es ist die Überheblichkeit der Erben, die den Reichtum ihrer Eltern steuerfrei übernommen haben und nicht mit einem Gedanken mehr daran erinnert werden, dass dieser Reichtum aus der Plünderung der Welt besteht.

Das werten linke Parteien dann meist als Grundargument für eine antirassistische und solidarische Politik.

Aber das ist zu einfach gedacht. Denn mit Recht weist Mishra darauf hin, dass dieses Wissen um ein ganzes Zeitalter der Demütigung (die Sendung dazu findet man auf Youtube, wir haben sie unterm Text verlinkt) und Bevormundung nicht nur in der Erinnerung der Völker der einst kolonialisierten Länder präsent ist, es spiegelt sich auch in ihrem Auftreten auf den politischen Bühnen. Und in etlichen politischen Bewegungen, die aus europäischer Perspektive sehr aggressiv wirken. Der politische Nationalismus Chinas mit seinen militärischen Drohgebärden gehört genauso dazu wie der politische Islam und das Aufkommen moderner Terrorbewegungen, die im Kern auf fundamentalistische Befreiungsbewegungen zurückgehen. Auch der Rückgriff auf das Modell des Kalifats (wie beim IS oder in der Türkei) hat damit zu tun. Eigentlich kennen das auch die Deutschen, die in Phasen einer gesellschaftlich empfundenen Demütigung ebenfalls ihr Heil im Nationalismus und scheinbar alten Herrschaftsmodellen suchten.

Aber augenscheinlich geht den Europäern genauso wie den US-Amerikanern das Verständnis dafür ab, dass man es eigentlich mit alten bekannten Phänomenen zu tun hat. Phänomenen, die eben „nicht da bleiben, wo der Pfeffer wächst“. Denn wer sich die ganze Welt ökonomisch so untertan gemacht hat (und bis heute nicht versteht, welche Wirkungen die Globalisierung eigentlich hat), der hat keine Welt mehr mit abgeschotteten Staaten, die über gut bewachte Häfen Handel miteinander treiben. Spätestens mit der Entwicklung des Internets ist das eine der dümmsten Illusionen, denen sich der Westen hingibt.

Es bleibt nichts mehr hinter verschlossenen Türen und Toren. Alles fließt. Nicht nur Milliarden Tonnen an Waren strömen permanent um den Globus – auch Millionen Menschen sind unterwegs – und zwar fast immer auf der Suche nach einem Erwerbseinkommen. Das ist die Haupttriebkraft hinter allen Migrationsbewegungen: Zukunftschancen, ein Job, die materielle Basis für eine Familiengründung.

Die Zuwanderung in den westlichen Staaten ist gewollt.

Aber Deutschland ist ja ein exemplarisches Beispiel für falsches Denken: Man holte die Millionen Gastarbeiter ins Land, weil nur so die Wirtschaft genug Arbeitskräfte bekam. Aber dann hat man diese Menschen behandelt, als wären sie wirklich nur „Gast“-Arbeiter und würden dann, wenn die Einheimischen wieder Jobs brauchen, einfach wieder „nach Hause“ fahren. Aber wo ist das Zuhause nach 10, 20, 30 Jahren, wenn man sich eingelebt hat, Familie gegründet hat, die Kinder längst lernen und studieren und sich selbst als Einheimische fühlen?

Auf den Zug sind viele machtbewusste Politiker aufgesprungen, die daraus viele ziemlich brenzlige Wahlveranstaltungen gemacht haben, die die Ressentiments derer schürten, die nun glaubten, ihnen seien „die Arbeitsplätze weggenommen worden“.

Und das ist die zweite Zutat zu einer hochexplosiven Mischung: Die Menge derer, die einfach so immer wieder aussortiert wird, immer nur die billigen und mageren Jobs bekommt und an den Wohltaten einer scheinbar stinkreichen Gesellschaft nicht teilhat. Leute, denen CDU-Generalsekretär Tauber mit seiner Twitter-Meldung über Mini-Jobber so richtig deutlich zeigte, was die Regierenden von ihnen halten. Sie bekommen auch noch den Hohn dafür, dass sie immer nur mit Mini-Jobs abgespeist werden.

Da ist es schon erstaunlich, dass dieser Teil der Gesellschaft in Wahlprogrammen nicht vorkommt. Ergebnis ist längst auch schon eine gärende Wut. Wahlen werden immer öfter auch zu Denkzettelwahlen. An denen auch Leute ihre Denkzettel abgeben, denen es eigentlich (noch) gut geht. Die aber das Gefühl nicht loswerden, dass ihr kleiner Wohlstand bedroht ist. Alle Debatten über Steuererleichterungen nützen nichts. Die Angst vor dem Absturz in „Hartz IV“, Schulden und Armut ist auch im deutschen Mittelstand allgegenwärtig.

Es kann sich als fatale Fehlentscheidung erweisen, die Angst dieser Menschen nun ausgerechnet mit verstärkter „Terrorbekämpfung“ und sicherheitspolitischer Aufrüstung kanalisieren zu wollen. Das ist das alte Schema. Nur die Emotionen auf andere lenken … Aber das ändert ja nichts an der Angst. Angst auch um den eigenen kleinen bedrohten Wohlstand.

Angst trifft auf Ohnmacht und Fatalismus. Das ist keine Gemengelage, über die sich gut berichten lässt. Sie lässt auch wenig Distanz und Rationalität zu. Aber gerade die wären dringend gefragt in diesen Zeiten. In der Innenpolitik der europäischen Länder genauso wie in der Weltpolitik.

Denn was sich in europäischen Medien wie ein illegitimer Machtanspruch der aufkommenden Staaten im Süden und Osten spiegelt, ist in Wirklichkeit ein völlig legitimer Anspruch – aufgeladen mit Erinnerungen und Emotionen. Diese Staaten fordern ihr Recht ein, gleichrangig behandelt zu werden. So wie die Menschen aus diesen Ländern das Recht haben, ebenso gleichrangig behandelt zu werden. Doch egal, ob Flüchtlings- oder Handelspolitik: Die alte Arroganz der einstigen Kolonialmächte ist noch immer da. Man will nicht abgeben, nicht auf gleicher Höhe verhandeln. Was selbst die Griechen zu spüren bekommen haben.

Das ist keine Lösung für die Gegenwart. Und es zeigt nicht einmal die Wege in eine wirklich auf Augenhöhe gestaltete Zukunft, die eben nicht mehr nur von den dominanten westlichen Staaten (allein) gestaltet wird. Das ging mehrfach schief in den letzten Jahren. Und es hat neue, fatale Konflikte ausgelöst.

Augenscheinlich wäre es eine wirklich moderne Tugend, wenn Staatsfrauen und Staatsmänner wieder zuhören lernten, miteinander reden, zu verstehen, wie es den anderen tatsächlich geht – auch emotional. Das geht in den weichgespülten Meldungen zu den großen Gesprächen meist unter. Wird auch beim G20-Gipfel völlig untergehen, wo alle Medien auf den aufgeblasenen Donald Trump schauen werden und nicht auf die Sorgen der Chinesen oder Afrikaner.

Aber das kennt man ja auch im Inland: Gehör verschaffen sich nur die Narzissten, die ihre Eitelkeit vor der Kamera austoben. Die bescheidenen, die mit ihren Sorgenzetteln am Rand der Bühne warten, interessieren nicht.

Ihnen wird vom Mikro aus gesagt, was man sich für sie ausgedacht hat.

Auch das nicht nur eine Art Ohnmacht. Sondern auch eine freundliche (oft genug aber auch rein bürokratische) Art des Verachtetwerdens, die der alten kolonialen Überheblichkeit verwandt ist: „Wir wissen schon, was gut für euch ist … aber ansonsten seid ihr …“. Dann mit Twitter-Grüßen von Peter Tauber.

Die ganze Serie „Nachdenken über …“

In eigener Sache: Abo-Sommerauktion & Spendenaktion „Zahl doch, was Du willst“

Abo-Sommerauktion & Spendenaktion „Zahl doch, was Du willst“

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar