Für FreikäuferIst Martin Schulz ein Engländer? Fast könnte man das meinen. Da startete er als Kanzlerkandidat und SPD-Hoffnungsträger furios ins Jahr 2017, hatte ein Ur-Thema, bei dem ihm niemand in Deutschland Konkurrenz machen kann. Der Ball lag auf dem Elfmeterpunkt. Und er hat ihn versemmelt. Obwohl er als langjähriger EU-Parlamentspräsident wissen müsste, dass das Thema Europa das wichtigste der nächsten vier Jahre wird. Gerade in Deutschland.

Denn alles, wirklich alles, was unsere Zukunft betrifft, hängt mit der Frage zusammen, wie die Europäische Gemeinschaft die aufgehäuften Probleme lösen kann. Gemeinsam. Mit klugen, nachhaltigen Lösungen.

Augenscheinlich hat Schulz’ langjähriger Konkurrent Jean-Claude Juncker nur darauf gewartet, dass Schulz in seinem Kanzlerwahlkampf irgendetwas dazu sagt, irgendwann wie Emmanuel Macron erklärt, wie dieser Koloss reformiert werden muss, damit den allerorten aufkommenden Nationalisten der Wind aus den Segeln genommen wird.

Und er hat es nicht getan. Er hat die Chance nicht genutzt, den Bundestagswahlkampf zu einem europäischen zu machen und den Wählern klar zu machen, was an Europa besser werden kann und muss und warum das gerade Deutschland stärkt.

Aber die Themen kamen im Bundestagwahlkampf alle nicht vor, wie es der Philosoph Richard David Precht in dutzenden Talkshows nicht müde wurde zu betonen. Stattdessen hat sich auch Schulz die reaktionären Frames der AfD aufdrängen lassen. Denn die haben den Bundestagswahlkampf dominiert. Die wirklichen Probleme unseres Landes, die allesamt mit der Krise der Demokratie zu tun haben, kamen überhaupt nicht vor.

Stattdessen nutze dann EU-Präsident Jean-Claude Juncker die Chance, seine Vision von Europa zu präsentieren, die vor allem in einer Ausweitung der Euro-Zone besteht. Vielleicht noch so etwas wie ein EU-Finanzminister, damit es endlich so eine Art gemeinsame Finanzpolitik gibt. Und das war es schon.

Also ein Szenario des Von-allem-noch-ein-bisschen-mehr. Ohne zu fragen, was das im Wirtschaftsgefüge des Kontinents anrichtet.

Gegen den EU-Finanzminister hat sich bislang niemand ausdauernder verwahrt als die Bundeskanzlerin mit ihrem getreuen Finanzminister. Sie haben der EU eine Finanzpolitik aufs Auge gedrückt, die scheinbar deutschen Interessen besonders entgegenkommt. Zumindest die deutsche Position nicht schwächt als großer Vormund. Eine gestaltende Hegemonialmacht ist Deutschland ja nicht. Es kommen ja keine Ideen.

Dabei steht nicht nur die gemeinsam koordinierte Finanzpolitik auf der Tagesordnung.

Alle Erfahrungen der letzten Jahre zeigen: Es fehlt auch eine gemeinsame Sicherheitspolitik.

Es fehlt eine gemeinsame Sozialpolitik, in der wenigstens mal Wege gesucht werden, wie man die sozialen Probleme gerade der jungen Europäer löst, wie man deren Arbeitslosigkeit und Chancenlosigkeit beendet.

Es fehlt eine gemeinsame Regionalpolitik. Stattdessen werden reihenweise Regionen abgehängt und verwandeln sich in Pulverfässer für einen explosiven Nationalismus.

Es fehlt eine gemeinsame Steuerpolitik, in der man endlich daran arbeitet, den ruinösen Steuerwettbewerb in der EU zu beenden.

Eine gemeinsam abgestimmte Außen- und Entwicklungshilfepolitik fehlt außerdem.

Man muss nur ein bisschen hinschauen und merkt: Die Manager in der EU-Kommission baden in Phantasielosigkeit, Juncker selbst hat keine wirklich zukunftsweisenden Ideen.

Und Martin Schulz, der ja nun lange genug die Debatten im Europaparlament geleitet und verfolgt hat – hat die ganze Erfahrung einfach ausgeblendet und ist herumgelaufen, um in Deutschland die Wehwehchen der Wähler anzuhören, um sie dann in ein Schwammwort wie „Gerechtigkeit“ zu stopfen.

Gerechtigkeit aber stellt man nicht her, indem man Gerechtigkeit herstellt. Sondern durch eine visionäre Politik, die die Stärken der EU erst einmal benennt, entwickelt und unterfüttert.

Europa wird nur durch eine gemeinsame Erzählung, ein starkes Narrativ gerettet, eines, das sich den Verweis auf die makabren Erzählungen der Erzreaktionäre ersparen kann, weil es sich nicht mehr als deren Korrektiv versteht. Wer Politik als Korrektiv chauvinistischer Krafthubereien versteht, hat wirklich den Job verfehlt, der hätte vielleicht Klempner werden sollen.

Ein Projekt wie die EU hat eine Zukunftsberechtigung nur dann, wenn es ein visionäres Projekt ist, das vor allem ein Politikverständnis in die Mitte stellt: Erfolgreich ist langfristig nur die Staatengemeinschaft, die ihre Kräfte bündelt und die Probleme gemeinsam anpackt und löst. Und die ihre Ideale nicht in hübsche Bücher steckt und beschwört, sondern sie in Projekte gießt und darüber diskutiert.

Und gerade weil Deutschland (auch wenn es so tut, als sei es nicht so) sich immer wieder die Entscheiderrolle in der EU anmaßt, hätte das Thema auf den Tisch gehört.

Denn ein funktionierender europäischer Markt ist ein deutsches Thema. Eine funktionierende Bildungs- und Forschungslandschaft stärkt Deutschland. Ein europäisches Einwanderungsgesetz, das Menschen mit den richtigen Qualifikationen den EU-Bürgerpass zugesteht, ist genauso ein wichtiger Schritt in die wirklich europäische Zukunft wie die Schaffung echter Länderpartnerschaften, die da draußen auch mal zeigen, dass man Einfluss nicht nur mit Militärmacht erpresst, sondern durch echte (Aufbau-)Partnerschaften schaffen kann.

Usw.

Aber wie gesagt: Da kam nichts.

Der Europäer Martin Schulz hat die Wahl mit Krachen verloren, weil er Europa wieder mal behandelt hat, wie es in der deutschen Politik immer behandelt wird: Als etwas, das uns scheinbar nicht nahegeht.

Die nächsten vier Jahre werden zeigen, wie nahe es uns geht. Und dass Deutschland wieder so deppert dasteht, wie es die letzten Jahre dastand: ohne Visionen, ohne Mut, feige vor der unausweichlichen Zukunft.

Die Serie zum Europa-Projekt.

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