„Griechischer Wein ist so wie das Blut der Erde, schenk noch mal ein ...“, erklang es ohrenbetäubend aus 50 Metern Entfernung von dem Pfad, an dem ich meine kleine Dienstagsnachmittag-Laufrunde drehte. Nein, das konnte unmöglich die Probe für das Coldplay-Konzert in der Arena sein. Zu abseitig dieser Gedanke.

Allein – ich war alarmiert. Die Bässe waberten weiter von der Arena her, Udo Jürgens aber sang im Altersheim. Oder besser aus den Boxen heraus – auf der kahlen Freifläche des Altersheimes nearby: ein angrenzender Schotter-Parkplatz, ein paar spärliche eingezäunte Bäumchen in der Retorte. Ein Sommerfest war hier im Gange.

Ich ging gucken.

20 Rollstühle, die No-Gos sozusagen, dazu ein paar Slow-Gos. Die Go-Gos waren eher die Frauen und Männer vom Personal. Weiße Pfleger-Kleidung mit adretten grünen Borten über den Taschen. Ein rundlicher junger Mann in Hawaii-Hemd, Camouflage-Shorts und blinkender Baseball-Kappe schob gerade beschwingt einen Rollstuhl mit einem Restchen Mensch herum – im Takt zu „Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus“.

Eine freundliche Live-Band hatte mittlerweile übernommen, mit Akkordeon, Keybord und Dauerwelle. Ein paar Lieder noch ging es so weiter.

Eine Wahnsinns-Lautstärke. Eine Wahnsinns-Nichtstimmung. Eine Wahnsinns-Rührung, die mich überfiel, angesichts der Bemühungen aller Beteiligten, diesen alten Menschen irgendwie etwas Gutes zu tun, indem sie deren Stimmung hochzubürsten trachteten. Die Go-Gos trugen das Assietten-Essen fort, verteilten Blumen. Manchmal dankbare, mehr noch leere Blicke erntend.

Die Band war bald beim Rausschmeißer gelandet. Winkte, verabschiedete sich, war charmant im jovial-wangenkneifenden Sinne.

Mitten in dieser Verabschiedungsszenerie fiel dem heiteren Hawaii-Hemd-Träger ein, dass Frau Erhardt, die Dame, die er die ganze Zeit vor sich hergeschoben hatte, doch „heute Geburtstagskind“ sei. Er rief es laut mit Appell-Funktion. Die Musiker, ganz Kinder unserer Zeit, kannten die Vier-Seiten-einer-Nachricht natürlich und konnten dies unmöglich ignorieren.

Man griff also zur Trompete. Und spielte einzig und allein für Frau Erhardt „Amazing Grace“. Ganz still war es. Ganz still plötzlich in diesem trostlosen Niemandsland. Alle schienen irgendwie zu lauschen. Alle Welt schien für einen kurzen Moment stillzustehen.

Nur eine nicht: Frau Erhardt schlug sich die Hände vors Gesicht. Und weinte ein bisschen.

Amazing Grace.

Dieser Text ist allen freundlichen und unterbezahlten Pflegekräften gewidmet, die sich seit Jahren innerhalb sich ständig verschlechternder Zustände aufopferungsvoll um unsere alten Menschen kümmern. Mögen die just beschlossenen 8.000 zusätzlichen Kollegen für reichlich Entlastung sorgen.

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Es gibt 2 Kommentare

Ich hoffe nur, die Band hat das nicht so lahmarschig gespielt wie in diesem Video.

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