Am Montag, 20. August, meldete die Uni Leipzig in kurzer Zusammenfassung das Ergebnis einer Studie, die Prof. Dr. Holger Lengfeld und seine Mitarbeiterin Clara Dilger vom Institut für Soziologie der Universität Leipzig gerade veröffentlicht haben. Die Quintessenz: „AfD-Anhänger: Kritik an Flüchtlingszuwanderung und der Demokratie sind wichtigste Wahlmotive“.

Für ihre Studie werteten die Leipziger Wissenschaftler Daten von mehr als 8.400 Befragten des „Sozio-oekonomischen Panels“ (SOEP) aus dem Jahr 2016 aus. Das SOEP ist eine seit 1984 jährlich vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) durchgeführte bevölkerungsrepräsentative Längsschnittbefragung deutscher Privathaushalte. Im Jahr 2016 wurden erstmals Einstellungen zur Zuwanderung von Flüchtlingen erhoben, was für die Leipziger Studie zentral ist, betont die Universität.

Und da wird man schon vorsichtig bei der Bewertung. Erst recht, wenn sich aus dem Ergebnis der Studie auch eine Empfehlung für die Politik ergebe, so Holger Lengfeld. Er rate den etablierten Parteien davon ab, mit sozialpolitischen Maßnahmen zu versuchen, AfD-Wähler zurückzugewinnen. „Sicher gibt es gute Gründe, die Lage der sozial Schwächsten in unserem Land zu verbessern. Weil die Motive der AfD-Wähler aber überwiegend keine wirtschaftlichen sind, würden Maßnahmen wie etwa Rentenzuschüsse für Geringverdiener wenig oder sogar nichts am derzeitigen Zulauf zugunsten der AfD ändern“.

Spätestens da ruft man natürlich die Studie selbst auf und schaut, was in der Zusammenfassung wirklich zu lesen steht. Begründen die Daten tatsächlich so eine Empfehlung?

Das Problem ist: Man kann so ein Datenmaterial nur befragen. Dazu bildet man Thesen.

Zwei Thesen haben die Leipziger Soziologen als Ansatz der Erklärung der Identifikation der Bürger in Deutschland mit der Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) empirisch getestet.

Erste These:

Die These der kulturellen Bedrohung besagt, dass im Zuge der Globalisierung eine neue kulturelle Spaltungslinie zwischen Kosmopoliten und Kommunitaristen entstanden ist, die sich vor allem – aber nicht nur – an der Frage der Offenheit der Gesellschaft für Menschen aus anderen Ländern entzündet. Die These ist, dass Bürger, die die Zuwanderung von Flüchtlingen ablehnen, sich aus diesem Grund mit der AfD identifizieren.

Zweite These:

Die (revidierte) Modernisierungsverliererthese drückt aus, dass Personen mit niedrigem sozialen Status sich der AfD nahe fühlen, weil sie annehmen, dass die Partei den Zugang von Flüchtlingen zum Arbeitsmarkt und zu Sozialleistungen begrenzen und auf diese Weise die Konkurrenz zwischen Flüchtlingen und angestammten Modernisierungsverlierern um knappe Güter reduzieren will.

Wenn man so ein Datenmaterial also auf zwei Thesen hin auswertet, bekommt man natürlich immer ein Ergebnis – aber immer nur in Bezug auf die beiden Thesen.

Das sieht dann schon manchmal aus wie die Katze, die den eigenen Schwanz jagt: „Auf Basis von Analysen mit Einstellungsvariablen des SOEP 2016 haben wir gezeigt, dass Personen, die die Flüchtlingszuwanderung nach Deutschland negativ bewerten, sich mit höherer Wahrscheinlichkeit mit der AfD identifizieren. Dieser Befund stützt die These der kulturellen Bedrohung.“

Was eben nur heißt: These 1 trifft zu. Menschen, die Angst vor Zuwanderung haben, wählen AfD. Sie sind mit den Parolen dieser Partei leicht abzuholen. Es sind ja die Hauptargumente der AfD. Jenseits davon ist die politische Kompetenz der AfD sehr schwach, sind die Lösungsangebote ziemlich mau. Grenzen dicht und endlich Ruhe, das spricht sichtlich viele verunsicherte Menschen an.

So sehr, dass ja mittlerweile auch andere Parteien glauben, diese Karte ziehen zu müssen. Wenn diese eine Partei damit 15 Prozent holen kann, hilft das ja vielleicht auch der eigenen Truppe?

Der Blick nach Bayern dürfte ernüchtern: Tut es nicht. Im Gegenteil.

Denn die Gegenthese könnte lauten: Gibt es gegenteilige Motive, die AfD gerade deshalb NICHT zu wählen? Müsste ja alles im Zahlensalat zu finden sein. Aber die Gegenprobe ist so nicht erfolgt.

Das finde ich ziemlich beunruhigend.

Und die andere These?

„Auch für die Geltung der Modernisierungsverliererthese finden wir Hinweise. Die Analysen zeigen einen indirekten, über die Einstellung zur Flüchtlingszuwanderung vermittelten Effekt des sozialen Status auf die AfD-Identifikation. Unsere Interpretation dieses Effekts ist: Modernisierungsverlierer neigen stärker zur AfD, weil sie Flüchtlinge als Konkurrenten um Arbeitsplätze und um Sozialleistungen wahrnehmen. Ökonomische und kulturelle Konfliktdimensionen überlappen sich somit (siehe auch Merkel 2017: 13). Allerdings ist der indirekte Effekt der ökonomischen Faktoren im Vergleich zum Haupteffekt der kulturellen Einstellungen deutlich geringer.“

Die Gegenprobe?

Gibt es vielleicht auch für die sogenannten „Modernisierungsverlierer“ gute Gründe, die AfD NICHT zu wählen? Denn selbst der Topos „Modernisierungsverlierer“ umfasst ja die unterschiedlichsten Ausprägungen – von niedriger Bildung über ungelernte Arbeit, prekäre Beschäftigung bis hin zu all den Betroffenen neoliberaler Wirtschaftspolitik, die zu Recht sauer sind, wie ihre Arbeitskraft in Deutschland entwertet und verramscht wird.

Das Fazit aus Sicht der Soziologen: „In unserer Analyse ist es maßgeblich der Wunsch nach kultureller Schließung, der die Menschen mit AfD-Neigung von Menschen mit anderen politischen Orientierungen unterscheidet. Allerdings muss man diese Schlussfolgerung sogleich einschränken. Unsere Ergebnisse können nicht eindeutig belegen, ob es sich dabei um Anzeichen für die Existenz einer umfassenden Konfliktlinie zwischen Kosmopoliten und Kommunitaristen handelt, wie die neuere politikwissenschaftliche Forschung postuliert (Inglehart/Norris 2017; Merkel 2017; Teney & Hebling 2014; Zürn & De Wilde 2016). Der Grund ist, dass wir über keine umfassende Messung dieser beiden Weltsichten verfügen, sondern nur eines ihrer Elemente, das Teil des Konflikts ist, empirisch testen konnten.“

Hier deuten die Autoren zumindest gewisse Bedenken an: Dass die Konfliktlinie zwischen Kosmopolitismus und Abschottung tatsächlich so eindeutig nicht ist.

Vor allem auch, weil sich die Motive bei den AfD-Sympathisanten überlappen (und eigentlich die jahrzehntelangen „Mitte“-Forschungen bestätigen, die einem durchaus nennenswerten Anteil der Bevölkerung rechtsextreme Weltsichten attestieren).

„Dessen ungeachtet lässt sich unseren Befunden eine anwendungsorientierte Schlussfolgerung entnehmen. Wenn es richtig ist, dass sich hinter der Unterstützung der AfD durch die Bürgerinnen und Bürger und den jüngsten AfD-Wahlerfolgen ein kultureller Konflikt über Zuwanderung von Flüchtlingen nach Deutschland verbirgt, dann deutet sich an, dass die AfD möglicherweise gute Chancen hat, sich im deutschen Parteiensystem langfristig zu etablieren“, meinen die Forscher.

Und sie zählen dann mehrere Motive auf, die die AfD möglicherweise für Wähler attraktiv machen:

– das Ausmaß von Zuwanderung
– Vorstellungen zu Multikulturalismus oder zur deutschen „Leitkultur“
– Anerkennung von entstandardisierten Lebensformen
– Reichweite der Geschlechtergleichheit

All das berühre „den wertbezogenen Kern einer Vorstellung, wie Menschen zusammenleben wollen. Anders als reine Verteilungskonflikte lassen sich diese kulturellen Konflikte, in denen letztbegründete Überzeugungen aufeinanderprallen, nicht einfach durch politische Kompromisse stillstellen oder sogar lösen.“

Das Problem daran ist: Es zeigt nur zentrale AfD-Topi, also lauter Abschottungs- und Abgrenzungs-Motive. Und so gesehen eben auch rein eindimensionale, „einfache“ Lösungsangebote für komplexe Veränderungen. Eigentlich eine echte politische Aufgabe: Wie kann man komplexe Veränderungen besser kommunizieren? Kann man das?

Mein Gefühl ist: Man kann es. Nur hat es seit 2015 so gut wie keine Rolle gespielt in der medialen Aufbereitung.

Und da ist man bei dem – aus meiner Sicht – sehr konstruierten Clinch zwischen Modernisierungsverlierern und Abschottern.

„Aber auch aus Sicht der Modernisierungsverliererthese würde Verteilungspolitik nur begrenzt wirksam werden. Denn nach dieser ist es eine essentielle Komponente der Identifikation der Bürger mit der AfD, Konkurrenz um Arbeitsplätze und Sozialleistungen durch Flüchtlinge abzuwehren. Diesen Konflikt kann reine Verteilungspolitik nicht befriedigend lösen“, schreiben die Soziologen.

Und kommen dann zu einer Folgerung, die sich überhaupt nicht logisch aus ihrem Datenmaterial ergibt: „Weil die Einnahme einer wertbezogenen Position zu diesen Fragen für das Selbstverständnis der politischen Parteien in Deutschland aber wesentlich ist, erscheint es kaum möglich, dass die etablierten Parteien den Anhängern der AfD attraktive politische Angebote machen können. Denn um AfD-Anhänger auf ihre Seite zu ziehen, müssten die etablierten Parteien ihre mehr oder weniger liberalen Positionen in Zuwanderungsfragen zumindest teilweise aufgeben.“

Im Gegenteil: Ich habe eher den Eindruck, dass genau das seit 2015 massiv geschieht – und fürchterlich in die Hose geht. Die liberalen Parteien verlieren massiv an Wählern und Vertrauen, wenn sie die Abschottungs-Sprache der AfD übernehmen.

Damit verlieren aber liberale Wähler eindeutig die „Partei ihres Vertrauens“. Und die Parteien verlieren ihren Wesenskern, sie werden profillos und reden im schlimmsten Fall nur noch der AfD hinterher. Weil ja augenscheinlich deren „Frames“ so toll und zugkräftig sind.

Was mich natürlich zu der Frage bringt: Haben sich die Forscher davon beeindrucken lassen? Denn mir fehlt einfach die komplette andere Seite. Ganze Parteiapparate und Redaktionen sind viel zu oft im trüben Abschottungs-Wortsalat unterwegs.

Etwas, was übrigens selbst der „Tagesspiegel“ mittlerweile massiv an der SPD kritisiert, wo man den Wortgebrauch, der auch noch die Wähler erreicht, augenscheinlich seit Jahren vernachlässigt hat. Die Bürger bekommen nur noch Bürokratensprech serviert. Dagegen ist jede radikale Blase der AfD konkret und bildhaft. Was auch daran liegt, dass sich diese mittlerweile rechtsextreme Partei sehr intensiv mit dem Thema Propaganda beschäftigt hat und systematisch daran arbeitet, ihre Themen und ihren Sprachgebrauch in den politischen Diskurs zu drücken.

Worauf ja just 2016 Elisabeth Wehling mit ihrem Buch „Politisches Framing“ dezidiert hinwies. Aber augenscheinlich sind gerade Parteien wie die SPD in der täglichen Hektik gefangen, sodass sie sich um ihren Wortgebrauch nicht mal ansatzweise kümmern können.

Dass die liberalen Parteien etwas anders machen sollten, klingt dann in der Überlegung der Leipziger Soziologen zumindest an: „Dadurch würden sie aber riskieren, einen Teil ihrer eigenen (tendenziell stärker kosmopolitischen) derzeitigen Anhängerschaft zu verlieren. In dieser Situation hat die AfD einen strategischen Vorteil: Sie muss lediglich Bürger mit kommunitaristischen Vorstellungen mobilisieren. Es ist zu vermuten, dass sie hierfür auch langfristig ausreichend Unterstützung in Deutschland findet.“

Ja und nein, sagt mir mein Gefühl. Ja: Die AfD ist eine Partei für Abschotter und Mauerbauer.

Nein: Das ist überhaupt kein Vorteil. Denn das ist ja eigentlich nicht der Wesenskern liberaler und kosmopolitischer Parteien. Die Empfehlung hieße also: Sie sollten eigentlich wieder über das reden, was ihre Wähler von ihnen erwarten. Und zwar klar und verständlich. Wähler erwarten zu Recht, dass „ihre Politiker“ klare Botschaften haben und verständlich machen können, wofür sie tatsächlich stehen.

Das Angebot der AfD ist eigentlich nicht zumutbar. Es ist verkochte Erbsensuppe oder irgendetwas anderes aus der Feldküche der Ewiggestrigen, die sich vor allem Möglichen fürchten und es am liebsten gänzlich aussperren wollen. Was ist denn das für ein Angebot?

Kläglich. Zäh. Schäbig.

Und noch zur letzten Empfehlung, die die Uni Leipzig zitiert: „Sicher gibt es gute Gründe, die Lage der sozial Schwächsten in unserem Land zu verbessern. Weil die Motive der AfD-Wähler aber überwiegend keine wirtschaftlichen sind, würden Maßnahmen wie etwa Rentenzuschüsse für Geringverdiener wenig oder sogar nichts am derzeitigen Zulauf zugunsten der AfD ändern.“

Was ich auch eher für eine falsche Empfehlung halte.

Denn die Tatsache, dass trotzdem Millionen Menschen das Gefühl haben, Bürger 2. Klasse zu sein, mag für das AfD-Wählen nicht so ausschlaggebend sein – aber es ist der Punkt, an dem das Misstrauen in die Demokratie beginnt. Und noch etwas anderes: das Gefühl, von Politik nicht mehr gemeint zu sein. Das ist eine Kraft, die selbst dann wirken würde, wenn es das Thema „Flüchtlinge“ nicht gäbe.

Es gibt wirklich keinen Grund, dieses Thema NICHT anzupacken und den Betroffenen wieder das Gefühl zu geben, dass Politik positive Lösungen für solche grundlegenden Probleme zu finden vermag.

Und bevor ich hier jemandem ein Parteiprogramm schreibe, setze ich einfach drei Punkte.

Manchmal ist Innehalten ganz gut.

Nachplappern war schon immer eine schlechte Politik.

Die Serie „Nachdenken über ..“

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Ist es jetzt schon allgemeiner Konsens, dass man Politik macht um Wähler zu überzeugen und nicht aus eigener Überzeugung? Anders lässt sich die Empfehlung der Sozialwissenschaftler nicht verstehen…

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