Das Bundesverfassungsgericht wird am 5. November 2019 über die Zulässigkeit der Sanktionen im SGB II entscheiden. Der Erwerbslosen- und Sozialhilfeverein Tacheles war als vom Verfassungsgericht bestimmter sachverständiger Dritter unmittelbar an dem Verfahren beteiligt. Und er erläutert vor der Gerichtsentscheidung noch einmal, warum Sanktionen gravierende Menschenrechtsverstöße sind.

Am Dienstag, 5. November, wird das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) sein Urteil zur Zulässigkeit der Hartz IV-Sanktionen verkünden. Es geht dabei um die Frage, ob SGB II-Sanktionen gegen das Menschenwürdeprinzip verstoßen oder nicht. Bisher hat das BVerfG in zwei Urteilen klargestellt, dass „das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG jedem Hilfebedürftigen die materiellen Voraussetzungen für seine physische Existenz und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben als unerlässlich zusichert” und dass dieses Existenzminimum unverfügbar sei.

Es wird jetzt spannend, ob das BVerfG bei dem anstehenden Urteil ausgehend von der Unverfügbarkeit des Existenzminimums entscheidet oder ob Gründe zur Einschränkung der Unverfügbarkeit findet, formuliert der Tacheles e. V. seine Erwartungen an die Urteilsverkündung.

Auf jeden Fall sei zu erwarten, dass das Bundesverfassungsgericht die SGB II-Sanktionen deutlich beschränken wird. Insofern wird das Urteil vom 5. November für die Lebenssituation von fast 6 Millionen Menschen im Hartz IV-Bezug eine erhebliche Relevanz haben.

Der Verein Tacheles war vom BVerfG als sachverständiger Dritter in dem Sanktionsverfahren bestimmt worden und hatte sich in einer fast 80-seitigen juristischen Stellungnahme vehement gegen Sanktionen ausgesprochen. Ebenfalls haben sich die Wohlfahrts- und Sozialverbände, der DGB und der Deutsche Anwaltsverein deutlich gegen die bisherige Sanktionspraxis positioniert.

In Vorbereitung auf die mündliche Verhandlung am 15. Januar 2019 hatte das BVerfG allen Verfahrensbeteiligten eine Reihe von Fragen zu den Folgen und Wirkungen der Sanktionen vorgelegt. Diesen Fragenkatalog hatte der Verein Tacheles in eine Online-Befragung umgesetzt, an der im Ergebnis über 21.000 Personen teilgenommen haben. Rund 17.000 Leistungsbeziehende, rund 3.500 Sozialarbeiter/-innen und Anwälte/-innen und rund 1.500 Jobcentermitarbeiter/-innen.

Neben der Befragung hatte Tacheles den Teilnehmenden die Möglichkeit geboten, ihre Erfahrungen und Position mit den Sanktionen direkt dem BVerfG mitteilen zu können. Von dieser Möglichkeit haben über 6.000 Menschen Gebrauch gemacht.

„Diese Rückmeldungen sind berührend, aber auch erschreckend, da sie die Wirkung, die Verzweiflung der Betroffenen authentisch wiedergeben“, sagt Harald Thomé vom Verein Tacheles e. V.. „Auch diese Unterlagen wurden Teil des Verfahrens und an das BVerfG weitergereicht. Damit wurden erstmalig die Rückmeldungen einer Vielzahl der von Rechtsfragen Betroffenen unmittelbar dem Verfassungsgericht weitergereicht.“

Zu den Ergebnissen der Onlinebefragung:

86,9 % aller Befragten hielten Sanktionen „nicht für geeignet“, um eine dauerhafte Integration in den Arbeitsmarkt zu gewährleisten. Vielmehr führen die Sanktionen nach Meinung von 80 % der Umfrageteilnehmer/-innen zu schlechter entlohnten und prekären Jobs.

Fast genauso viele (79,2 %) sehen eine konkrete Disqualifizierung für ihre weitere erfolgreiche berufliche Laufbahn.

Dass Sanktionen auch ganze Haushalte, sogenannte Bedarfsgemeinschaften, treffen, sehen 83,9% der Befragten.

Besonders betroffen sind demzufolge mit rund 77,9 % alleinerziehende Eltern von sanktionierten Jugendlichen/jungen Erwachsenen sowie deren Geschwister.

Weit über die Hälfte (64,9 %) der Befragten bestätigten, dass Sanktionen zu Wohnungsverlust geführt haben und 69,6 % haben in diesem Zusammenhang Kenntnis von Stromsperren.

Für rund drei Viertel der Teilnehmenden (70,3 %) waren/sind die Geldkürzungen der Beginn einer Verschuldungsspirale und mehr als jeder Zweite (56,3 %) hat erlebt, dass Sanktionen zum Verlust des Krankenversicherungsschutzes geführt haben.

63,3 % aller Befragten erklärten, dass Sanktionen zu Resignation und Motivationsverlust führen. Als Gründe gaben 44,5 % „Überforderung aufgrund psychischer Erkrankung/Belastung“ an.

Dass eine Zuweisung für eine berufliche oder persönliche Qualifikation nicht immer passgenau ausgeführt wird, bemängeln 40 % der Teilnehmenden.

Mängel bei der Beratung der Jobcenter vor Ort kritisieren 37,4 % der Befragten und mehr als jeder Dritte (38,0 %) erlebte „rechtswidriges oder willkürliches“ Verhalten“ durch die Jobcenter.

***

Zu diesem Befund ergänzt Harald Thomé vom Verein Tacheles e. V.: „Diese Zahlen spiegeln massive Menschenrechtsverletzungen wider. Sanktionen dürfen niemals zu Wohnungs-, Energielosigkeit oder gar dem Wegfall der Krankenversicherung führen. Sie belegen, dass die Leistungsberechtigten nicht arbeitsunwillig sind, aber nicht die notwendige Unterstützung durch die Jobcenter erhalten. Selbst jede/r zweite Jobcentermitarbeiter/in (50,3 %) bemängelte die schlechte Beratung der eigenen Behörde.“

Sanktionen führen zu Wohnungsverlust, Stromsperren und in die Verschuldungsspirale

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