Das Seniorenzentrum „Haus Immergrün“ an der Ratzelstraße in Kleinzschocher ist nur ein Beispiel von vielen dafür, was in jüngster Zeit in Leipzig selbst, in ganz Sachsen und eigentlich sogar der kompletten Bundesrepublik passiert. Das erst Anfang 2022 fertiggestellte und eröffnete Gebäude ist ein weiteres neues Zuhause von vielen für die besonderen Ansprüche von Senioren und generell Pflegebedürftigen. Damit zeigt das Gebäude einmal mehr, wie stark der Bauboom im Bereich der Pflege derzeit ist – mit gutem Grund.

Pflegeboom: Deutschlands Altersstruktur als Auslöser

Wohl fast jeder Leser dürfte zumindest in den Medien mitbekommen haben, wie häufig das Thema Pflege diskutiert wird – häufig unter dem Begriff „Pflegenotstand“ subsummiert. Diesbezüglich lässt sich der Bauboom kaum näher erläutern, ohne auf den deutschen Pflegebereich im Gesamten einzugehen.

Anfangen muss man hier bei Deutschlands gesellschaftlicher Struktur. Rund 83 Millionen Menschen lebten Ende 2020 diesem Land. 18,27 Millionen davon waren zu diesem Zeitpunkt 65 Jahre oder älter – wohingegen es lediglich 13,75 Millionen Minderjährige gab.

Dies macht Deutschland, vollkommen wertneutral, zu einer derjenigen Nationen mit den ältesten Bevölkerungen weltweit. Genauer: In der Übersicht der UN liegen wir mit einem Altersschnitt von 45,7 Jahren auf Platz 5 hinter Portugal, Martinique, Italien und Japan. Auf demselben Platz im Bundesländer-Ranking liegen übrigens wir Sachsen mit 46,9 Jahren, also sogar über dem Bundesschnitt. Zudem wird der Altersschnitt in den kommenden Jahren höchstwahrscheinlich weiter ansteigen.

Hinter dieser Tatsache stecken verschiedene Auslöser:

Deutschlands Geburtenrate ist extrem niedrig. 2019 beispielsweise lag der Wert bei 1,54 Geburten pro Frau. Um das Bevölkerungsverhältnis aufrecht zu erhalten, sind jedoch 2,10 Geburten nötig. Laut einer älteren Studie von 2012 liegt der Geburtenmangel vor allem an einer schlechten Vereinbarkeit von Beruf und Familie – hochproblematisch, da viele Paare und erst recht Familien auf zwei Gehälter absolut angewiesen sind.

Deutschland verfügt, allen Unkenrufen zum Trotze, über eines der leistungsfähigsten Gesundheitssysteme der Welt. Das bestätigt eine US-Studie aus dem Jahr 2021. Genauer gesagt liegen wir auf Platz 4. Dieses Gesundheitssystem ermöglicht es, das Leben vor allem älterer Menschen deutlich zu verlängern. Zu einer generell alternden Bevölkerung kommt also noch hinzu, dass die Senioren dank des deutschen Gesundheitssystems länger leben können.

Deutschland befindet sich derzeit mit vielen anderen Staaten in einer Art Zwickmühle: Die besonders geburtenstarken „Baby-Boomer“-Jahrgänge der Nachkriegszeit bis zur Einführung der Pille befinden sich derzeit praktisch in Gänze im Rentenalter. Die Jahrgänge ab 1961 (BRD) und 1965 (DDR) sind merklich kleiner, weil ab diesen beiden Jahren die Pille eingeführt wurde, was die Geburtenraten reduzierte.

Vereinfacht ausgedrückt bedeuten diese drei Positionen für Deutschlands Pflege: Es gibt derzeit sehr viele pflegebedürftige Menschen. Und da die Medizin immer besser wird, wird sich zumindest das prozentuale Verhältnis in absehbarer Zeit kaum verändern; selbst, wenn die absoluten Zahlen sich aus natürlichen Gründen in den kommenden Jahren reduzieren werden.

Foto: stock.adobe.com © Monkey Business

Pflegeboom: Gesetze und Investitionslust

Wer derzeit einen Blick auf das Portfolio namhafter Mittelgeber wirft, wird rasch feststellen, wie häufig darin Seniorenwohnheime, Einrichtungen für betreutes Wohnen, Tagespflegen und ähnliche Immobilien zu finden sind. Tatsache ist, Investoren haben seit einigen Jahren den Pflegebereich für sich entdeckt und sind eine wichtige treibende Kraft, ohne die der Bauboom so kaum möglich wäre – angesichts der skizzierten Altersstruktur ein äußerst fatales Szenario.

Der Grund dafür liegt auf der Hand: In einem Land, in dem heute und zukünftig so viele Menschen eine altersgerechte, betreute Form des Wohnens sowie verschiedene andere Formen von Pflege benötigen, bietet sich ein breites Feld, um nach Investitionen zu sehr lohnenswerten Renditen zu gelangen – neudeutsch würde man von einer Win-Win-Situation für beide Seiten sprechen: Die Pflegebedürftigen bekommen mehr, neuere und zudem heimatnähere Pflegeplätze, die Investoren erhalten attraktive und sehr sichere finanzielle Rückflüsse.

Um das einmal in Zahlen auszudrücken: 2019 befanden sich deutschlandweit fast 900 neue Pflegestandorte in der Planungsphase, bei weiteren rund 500 hatte bereits die Bauphase begonnen. Summa summarum entspricht dies über 40.000 zusätzlichen Pflegeplätzen und Wohneinheiten. Zum Vergleich: Ende 2019 gab es in Sachsen 61.018 Plätze in stationären Pflegereinrichtungen.

Ein wichtiger Grund hinter diesem Boom sind die seit einigen Jahren in Gänze unter Länder-Regie laufenden Heimgesetze (bis Thüringen 2014 als letztes Bundesland ein eigenes Gesetz einführte, war das Heimgesetz ein Bundesgesetz). Diese Gesetze machen teils strenge Vorgaben, wie viele Plätze in welcher Art (etwa ambulant und stationär) es bezogen auf die Einwohnerzahl geben muss. Viele Bundesländer haben hierbei, vor allem mit Blick auf die Zukunft, Nachholbedarf, dementsprechend wird gebaut.

Foto: stock.adobe.com © Rawpixel.com

Pflegeboom – Pflegenotstand?

Für manchen Leser mögen die Zahlen aus dem vorangegangenen Kapitel etwas überraschend sein. Kennt man doch vor allem Meldungen wie diese: Eine Krankenkasse hat für das Jahr 2030 knapp 350.000 Pflegebedürftige für ganz Sachsen errechnet – aktuell sind es lediglich zirka 250.000. Und immer wieder schwingt in solchen Meldungen mit, wie dramatisch die Lage in der Pflege sei. Passt dies mit dem Bauboom zusammen?

Ja, denn bei beidem handelt es sich zwar um thematisch verbundene, praktisch jedoch getrennte Szenarien. Auf der einen Seite die durch den Bauboom steigende Zahl von Pflegeplätzen, auf der anderen die personelle Situation auf dem Pflegemarkt.

Hier zeigt sich eine weitere, sehr gewichtige Herausforderung der angesprochenen Altersstruktur in Deutschland. Einfach formuliert: Es gibt immer mehr und immer älter werdende Pflegebedürftige (und immer mehr Plätze für diese), aber unter anderem durch die schlechte Geburtenrate und eine nicht ausreichende Zuwanderung kommen nicht genügend junge Menschen nach, die den pflegenden Part übernehmen.

Dieser personelle Faktor ist der eigentliche Pflegenotstand. Im Einzelnen zeichnet die Initiative „Pflegenot Deutschland“ des Deutschen Pflegehilfswerk e. V. i. G. diesbezüglich ein recht düsteres Bild:

Allein in der Altenpflege fehlen derzeit knapp 145.000 Fachkräfte, die wenigstens nötig wären, um eine angemessene Betreuung zu gewährleisten. Angemessen heißt, am Pflegestandort kann wenigstens ein gleichbleibender Zustand einer Person beibehalten werden; er verschlechtert sich also nicht.

Generell gibt es in Deutschland viel zu wenige Auszubildende, da ein hoher Prozentsatz eines jeden Jahrgangs stattdessen studiert. In absoluten Zahlen entscheiden sich deshalb zu wenige junge Menschen für einen klassisch ausgebildeten Pflegeberuf.

Weiter verschlechtert wird diese Situation, da es in der Pflege eine Abbrecherquote von gut 30 Prozent gibt – mit eine der höchsten in sämtlichen Ausbildungsberufen. Im Klartext: Von den sowieso wenigen Pflege-Azubis schließen weniger als 70 Prozent die Ausbildung ab und werden zu einer vollwertigen Pflegekraft.

Die Gründe dafür sind dieselben, die von den meisten ausgebildeten Pflegekräften für ein Ausscheiden aus dem Beruf angegeben werden: Stress, extremer Zeitdruck und Arbeitsaufkommen. In der Folge ist der Altersschnitt der rund 1,7 Millionen deutschen Pflegekräfte längst prekär: Zirka 30 Prozent der professionell Pflegenden haben das 50. Lebensjahr bereits überschritten, lediglich 15 Prozent sind noch keine 30 Jahre alt.

Durch das schlechte zahlenmäßige Verhältnis von Pflegekräften zu Pflegebedürftigen arbeiten viele notgedrungen am Rande oder sogar jenseits der Legalität, was die arbeitsrechtlichen Vorgaben anbelangt. Während diese Zeilen geschrieben wurden (Mitte Juni) hatten sich im Jahr 2022 deutschlandweit deshalb bereits 87,5 Millionen Pflege-Überstunden nur in Kliniken angesammelt. Ein Grund dafür ist zwar die Ausweitung der täglichen Arbeitszeit auf bis zu zwölf Stunden aufgrund der Corona-Pandemie; allerdings sah die Lage schon davor kaum besser aus.

Die meisten Pflegekräfte empfinden eine dramatische Schieflage zwischen den drei Faktoren emotionale Beteiligung, tägliche Zeit für die Pflegearbeit pro Person und Vergütung. Das Schicksal der Pflegebedürftigen geht nicht spurlos an den Pflegenden vorbei.

Gleichsam haben sie für jeden einzelnen Patienten kaum genügend Zeit, um nur die grundlegenden Tätigkeiten zu vollziehen, geschweige denn Pflegearbeit, die auch das menschliche Miteinander einbezieht. Zu all dem wird der Beruf vielfach nicht so vergütet, wie es angesichts der hohen Qualifikation und Anforderungen angebracht wäre.

Insbesondere, da die Corona-Pandemie die schon zuvor bestehende Lage nochmals verschärfte, hat die Bundesregierung 2022 die Pflege reformiert. Die wichtigsten Eckpunkte:

Ab dem 1. September 2022 können Pflegeeinrichtungen nur noch dann zugelassen werden und mit der Pflegeversicherung abrechnen, wenn ihre Gehälter dem jeweils gültigen Tarifvertrag entsprechen.

Ein Bundes-Finanzierungsprogramm soll in der vollstationären Pflege 20.000 weitere Hilfskräfte finanzieren – angelernte Personen, die ausgebildete Pflegefachkräfte unterstützen und für komplexere Aufgaben entlasten sollen. Beispielsweise übernehmen Pflegehilfskräfte Basistätigkeiten wie das Waschen oder Füttern.

Pflegefachkräfte bekommen mehr Kompetenzen, wodurch sie beispielsweise künftig eigenständig Hilfsmittel verordnen dürfen – bisher ging dies nur über den Umweg über ausgebildete Mediziner.

Ob dies jedoch ausreicht, kann nur die Zeit zeigen. Die Pflegeimmobilien erreichen aktuell allmählich einen Wert, der nicht nur der derzeitigen, sondern vor allem künftigen Zahl der Pflegebedürftigen entspricht. Für die personelle Situation ist hingegen die Politik ebenso gefragt wie die Gesellschaft insgesamt. Pflegeheime und ähnliche Immobilien können gebaut werden, für Pflegekräfte in angemessener Zahl und Vergütung sind die Hürden jedoch höher.

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar