Haben Männer auch Wechseljahre? Eine nicht ganz abwegige Frage. Frauen haben doch welche, oder? - Oder verengt sich hier der Blick? So ganz beiläufig haben sich Sabine Hamm und Ursula Meiners in ihrem Buch "Wechseljahre: Abschied und Neubeginn" eben doch nicht nur mit den Frauen beschäftigt und der Stilisierung von Menopause und Klimakterium zu klinischen Krankheitsbildern, die behandelt werden müssen.

So eine leichte Ahnung schwebt am Beginn des 21. Jahrhunderts, dass alles, auch jeder einzelne menschliche Intimbereich, zum Geschäftsfeld renditesüchtiger Konzerne werden kann. Die Zahl der Krankheiten, die allein in den letzten 20 Jahren “erfunden” wurden, ist Legion. Manchmal sind es uralte, ganz normale Prozesse, die der menschliche Körper durchläuft, weil er nun einmal so ist – endlich nämlich und nur für eine bestimmte Zeit zeugungsfähig und zu Höchstleistungen fähig. Viele dieser “neuen Krankheiten” sind in anderer Form seit Jahrhunderten bekannt und den Betroffenen war einst durchaus bewusst, dass es schlicht Symptome, Alarmzeichen ihres Körpers sind, die daran erinnern, dass sich jemand gerade überfordert oder Bedingungen ausgesetzt ist, die er so nicht wird aushalten können.

Ein Symptom ist keine Krankheit. Aber ein Großteil der modernen Medizin ist auf die Linderung von Symptomen ausgelegt, nicht auf die Änderung der krank machenden Lebensumstände. Das betrifft auch das Sexualleben der Menschen.

Und noch eins kommt hinzu: Seit einem halben Jahrhundert (und teilweise noch länger) verdienen ganze Industrien ihr Geld damit, den Menschen designen zu wollen. In jedem Bereich – von der Schönheitschirurgie bis hin zu leistungssteigernden Präparaten, von der künstlichen Zuführung von Vitaminen bis hin zur Perfektionierung des Sexuallebens. Sex sells.

Und es ist kein Zufall, dass Hamm und Meiners, nachdem sie die Sache mit den Wechseljahren und dem weltweit höchst unterschiedlichen Umgang damit analysiert haben, zur Rolle der Frau im heutigen westlichen Bild von Partnerschaft kommen. Die natürlich eine andere ist als vor 100 Jahren. Eine Frau verheiratet sich nicht mehr (außer in gewissen konservativen Kreisen) nach Stand und Geld, sondern nach Liebe. Das 20. Jahrhundert gilt ja als Jahrhundert der “sexuellen Befreiung”.

“Liebe, Lust und Frust” haben die beiden Autorinnen das Kapitel benannt. Ein Kapitel, in dem sie einmal die gesellschaftlichen (Leit-)Bilder zu Liebe, Partnerschaft, Sexualität etwas genauer beleuchten. Ganz bewusst Sexualität an dieser Stelle, denn zum üblichen Sex klaffen hier Abgründe. Das hat Gründe. Männliche, wie die beiden Autorinnen feststellen. Denn wen Liebe und Sexualerfahrung maßgebliche Werte sind, die das Wohlgefühl eines Menschen schon ab der Jugend bestimmen, dann sind es auch Dinge, die man verkaufen kann. Bessere Liebe. Besseren Sex. Und da Sex sich immer verkauft, haben ganze Industrien sich des Themas gewidmet. Nicht nur Pharmakonzerne, die besseren Sex mit Pillen versprechen, sondern auch eine komplette Werbewirtschaft, die sexuelle Verheißungen zum Träger ihrer Botschaften macht. Selbst beliebige Produkte werden mit “sex appeal” aufgeladen, Filme erzählen nichts anderes als von der perfekten Liebe und vom perfekten Sex. Es ist, als würde der ganzen Welt immerfort ein Versprechen gegeben: Ihr könnt euch das Paradies kaufen.

Regalmeter von Frauen-Zeitschriften beschäftigen sich mit nichts anderem, die Kosmetik- und die Mode-Industrie kennen kaum ein anderes Thema mehr. Konditionierung mit System.Doch der genauere Blick zeigt, um was es auch diesmal geht: Die männliche Definition dessen, was Sex sein soll. “Die weiblichen Bedürfnis- bzw. Begehrensstrukturen oder auch Neigungen gehen oft in eine ziemlich andere Richtung als die männlichen. Und doch dreht sich in der einschlägigen Literatur, und nicht nur dort, fast alles ausnahmslos um die männlichen Wünsche und Sexualnormen; nur diese scheinen das wahre (normale) Sexualempfinden wiederzugeben”, schreiben Hamm und Meiners. Und es waren erstaunlicherweise auch in der Vergangenheit Männer, die die einschlägigen Werke zu raffinierterem und noch tollerem Sex geschrieben haben.

Und nicht nur Hamm und Meiners haben den drängenden Verdacht: Dahinter steckte immer schon mehr Wunschdenken als Erfahrung. Genauso wie hinter all den heutigen Leistungsversprechen und Leistungserwartungen in Sachen Sex.

Und es wird auch bei den diversen Studien und Erhebungen, die sie zitieren, sichtbar, dass nicht nur Frauen mit ihren Erlebnissen in Partnerschaft und Sexualleben nicht glücklich sind. Auch Männer leiden und scheitern an den öffentlich geweckten Erwartungen und Ansprüchen. Die Erwartungsnormen der Sex-Industrie bleiben im Alltag unerfüllt. Frauen wie Männer bleiben frustriert, erleben Versagensängste, ihre Ansprüche aneinander werden nicht erfüllt. Und wenn Frauen dann über ihre nicht eingelösten Erwartungen anfangen zu reden, werden Männer sprachlos, erleben es als zusätzliche Leistungserwartung.

Denn eines wird auch sichtbar: Über Sex und vor allem tollen Sex reden in der Regel jene Männer, die über echte Beziehungen, Partnerschaften und Liebe nie reden würden. Sie behandeln die Paarbeziehung wie einen Leistungswettbewerb.

Und die anderen?

Sie verstummen, wie es aussieht, halten dann nach der ersten Mondblümchenphase die Partnerschaften nur noch aus, funktionieren als Ernährer, greifen manchmal zur Flasche, und leider oft genug zur Gewalt. Denn wer in seinen wichtigsten Bedürfnissen frustriert ist – und Liebe ist eines -, der sucht dafür ein Ventil. Und wenn er darüber nicht reden kann, dann wird die aufgestaute Aggression eben am Objekt der Liebe abreagiert. Oder Mann flüchtet in den Seitensprung.

Frau übrigens auch, denn zum Seitenspringen gehören immer zwei. Und wo nicht über Liebe, Nähe, Vertrauen und Versagensängste gesprochen wird, herrschen die Klischees. Die Autorinnen dazu: “Bis heute ist unser Denken über Sex bestimmt von schematischen Bildern und vertrackten Mythen und Klischees, die uns leiten, dirigieren und ganz besonders dann im Genick sitzen, wenn es im Bett konkret zur Sache geht.”

Oder auch nicht. Das Bett sollte eigentlich keine Hochleistungsarena sein und auch kein Sportplatz.

So kommen die beiden Autorinnen beim Nachdenken über das “Problem” Wechseljahre, das eher ein westliches Zivilisationsproblem ist, das mit der fehlenden Anerkennung der Frauen in der Gesellschaft einhergeht, zum Schweigen der Männer. Wo eine ganze Spezies tatsächlich nur schweigt, weil sie glaubt, den allgegenwärtigen Erwartungen nicht (mehr) genügen zu können,. Da kommen dann die “Experten” zum Zug, die “nach funktionellen und organischen Störungen im weiblichen und manchmal auch männlichen Organismus” suchen, zumeist vergeblich. Aber weil der Körper aus dieser Sicht nur eine Maschine ist, die irgendwie nicht richtig funktioniert, werden diverse Mittelchen und Hormongaben verordnet. Das kann nicht funktionieren, füllt aber die Kassen der Konzerne, die diese Mittelchen herstellen.

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