Es ging ihnen zwar vor allem um das Selbstbild und die Stigmatisierung übergewichtiger Menschen. Aber ein wenig ist die Arbeit, die Dr. Claudia Sikorski für das Integrierte Forschungs- und Behandlungszentrum (IFB) AdipositasErkrankungen in Leipzig anhand von vorliegenden Studien zur Stigmatisierung bei Adipositas erstellt hat, auch wie ein Spiegel für die ganze heutige Gesellschaft. Und sie eröffnet eine Frage, die durchaus wichtig ist: Könnte das vermehrte Auftreten krankhaften Übergewichts etwas mit der zunehmenden Vereinsamung in unserer Gesellschaft zu tu haben?

Die Vorurteile, Abwertung, soziale Ausgrenzung und Diskriminierung, die Menschen aufgrund ihrer Adipositas erleben, wirken wie chronische Stressoren. Die psychische Belastung durch diese Stigmatisierung kann zu Depressionen, Angststörungen und oft sogar zu weiterer Gewichtszunahme führen. Die Mechanismen dieses Teufelskreislaufs hat Dr. Claudia Sikorski anhand von vorliegenden Studien zur Stigmatisierung bei Adipositas untersucht.

Die Ergebnisse erschienen kürzlich im Fachjournal “Obesity” (doi: 10.1002/oby.20952). Gerade weil Adipositas weiter zunimmt bei gleichzeitig nur wenigen wirksamen Behandlungsmöglichkeiten, ist es wichtig zu verstehen, welche Mechanismen den Erfolg von Adipositastherapien vereiteln.

Sikorski und ihr Team analysierten 46 wissenschaftliche Studien, die den Zusammenhang zwischen der Stigmatisierung von stark übergewichtigen Menschen mit psychischen Belastungen und Störungen untersuchten.

“Wir finden viele Risikofaktoren, die im Bereich psychischer Störungen etabliert sind, bei Menschen mit Adipositas stark ausgeprägt. Diese Risikofaktoren sind nicht etwas Spezielles für diese Gruppe, aber Menschen mit Adipositas scheinen, auch aufgrund von Stigmatisierung, eine erhöhte Häufigkeit dieser Faktoren aufzuweisen”, sagt die Forscherin. Vor allem das in den Studien beschriebene herabgesetzte Selbstwertgefühl gilt als ein großer Risikofaktor für psychische Leiden wie Depressionen und Angststörungen.

Und da ist man mittendrin in einer Gesellschaft, die mittlerweile jeden Lebensbereich dem Wettbewerb unterworfen hat, einem Wettbewerb um Perfektion, Fitness, Anpassungsfähigkeit, Flexibilität, Schönheit und – oft vergessen – “Teamgeist”. Ein Druck, den viele Menschen nicht aushalten. Doch nicht jeder widersetzt sich oder sucht sich eigene Wege zur Verwirklichung.

Denn tief eingebaut in das menschliche Sozialverhalten ist auch das starke Bestreben nach Akzeptanz. Lebensvorstellungen und Wirklichkeit geraten da schnell in Kollision.

Aber was passiert dann zuerst? Die Ausgrenzung oder die Anfälligkeit für Übergewicht? Oder bedingt sich beides?

Angelehnt an Mark Hatzenbuehlers (Columbia University) Erklärungsansatz zu den Auswirkungen von Stigmatisierung bei homosexuellen Menschen entwickelte Sikorski ein Modell der Prozesse, die zur größeren Anfälligkeit adipöser Patienten für psychische Erkrankungen führen.

Das Bild, das sich da ergab, war schon erstaunlich deutlich:

Die Betroffenen hätten ein vermindertes Selbstwertgefühl und eine verminderte Fähigkeit zur Problembewältigung (Coping). Dazu kämen weitere Risikofaktoren wie die negative Selbstwahrnehmung, vermehrte Einsamkeit und der Mangel an sozialer Unterstützung.

Und wenn sich Menschen, die eh schon ein nicht so starkes Selbstbild haben, auch nicht bestätigt finden, verstärkt sich die eigene Unsicherheit durch ein negatives Feedback.

Krankhaft übergewichtige Männer und Frauen nehmen außerdem Sikorski zufolge das negative Fremdbild, das sich durch die Stigmatisierung zeigt, als Selbstbild an. Experten sprechen von einem internalisierten Stigma oder Selbststigma. Gerade in einem Gewichtsreduktionsprogramm sei aber das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und Kräfte unabdingbar, denn die Therapie der Adipositas erfordere mehr als bei anderen Erkrankungen viel Kraft, Engagement und Motivation des Patienten.

In der Adipositasforschung hat sich auch in der zurückliegenden Forschung schon gezeigt, dass die Stigmatisierung und das Selbststigma zu einem ungünstigen Essverhalten und somit zur Erhaltung oder Verschlimmerung der Adipositas beitragen. Es entwickelt sich ein Teufelskreislauf aus Stigmatisierung aufgrund von Adipositas, mehr sozialem Rückzug, weiterer Zunahme des Gewichts und folglich immer stärkerer Stigmatisierung. Dazu kommt häufig noch die Erfahrung von Benachteiligung und Diskriminierung im sozialen und Berufsleben.

Claudia Sikorski sucht nach therapeutischen Ansätzen, wie dieser Teufelskreislauf durchbrochen werden kann.

“Für eine verbesserte Adipositastherapie ist unsere Arbeit wichtig, weil wir nicht darauf vertrauen können, dass sich die gesellschaftliche Wahrnehmung von Menschen mit Adipositas in absehbarer Zeit verbessert. Deshalb sollten wir den Betroffenen Mittel und Wege zum Umgang mit Stigmatisierung aufzeigen. Dies sollte möglichst integraler Bestandteil der Adipositastherapie werden”, erklärt die 29-jährige Wissenschaftlerin.

In einer Folgestudie will Sikorskis wissenschaftliches Team in Kooperation mit dem forsa-Meinungsforschungsinstitut rund 1.000 Erwachsene mit Adipositas zu ihren Erfahrungen mit Stigmatisierung und ihrem Umgang damit befragen lassen. Dies soll helfen, besser zu verstehen, wie Stigmatisierung erlebt wird, wie sie ihre negative Wirkung entfaltet und wie die Betroffenen damit umgehen können. Erst die wissenschaftliche Auswertung dieser Phänomene ermöglicht es dann, Leitlinien für eine wirksamere Therapie zu entwickeln, die einer evidenzbasierten Medizin gerecht werden.

Und am Ende könnten ein paar Erkenntnisse stehen für den problematischen Umgang unserer heutigen Gesellschaft mit Fremd- und Selbstbildern. Möglicherweise auch zum zwiespältigen Gefühl, in einer Welt zu leben, in der nur der perfekte und schöne Mensch positiv wahrgenommen wird, der „fehlerhafte“ Mensch sich aber selbst als Makel wahrnimmt. Was dann nicht nur für übergewichtige Menschen ein Thema wäre, sondern sehr wahrscheinlich auch für andere Ausgrenzungserfahrungen. Und die Frage tut sich dann tatsächlich auf: Gehören die zunehmende Vereinsamung und die zunehmende Scheu vor sozialen Kontakten nicht direkt zusammen mit der zunehmenden Zahl von sogenannten “Zivilisationskrankheiten”, zu denen Adipositas natürlich gehört?

Quelle: Doris Gabel, IFB Adipositas

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