Es gab mal eine Zeit, da habe ich mir wirklich noch Gedanken darüber gemacht, was sich andere Leute so zum Jahreswechsel alles vornehmen und dann doch nicht halten und warum nicht. Als wenn dieser Moment mit Schampus und Geknall wirklich etwas ändern könnte und beim nächsten Jahreswechsel nicht derselbe entschlussfaule Mensch dastünde und sich vornähme, sich irgendwie zu ändern. Aber die Krankenkassen sind von diesem ritualisierten Selbstbetrug regelrecht begeistert – und fragen jedes Jahr nach.

So auch die DAK, die eine repräsentativ ausgewählte Schar von Deutschen nach den immer gleichen Wünschen fragt – und sich darüber wundert, dass sich die meisten doch nicht dran halten. Dabei liegt es auf der Hand, warum das nicht funktioniert. Aber erst einmal zur Einschätzung der DAK.

Na, noch ein Versuch mit Stressabbau?

Die Coronakrise bestimmt seit Monaten das Leben in Deutschland, so die DAK. Auch auf die guten Vorsätze und deren Umsetzung hat die Pandemie Einfluss. So fiel es 51 Prozent der Menschen in diesem Jahr schwerer, ihre Vorhaben für 2020 in Zeiten von Lockdown und Kontaktbeschränkungen umzusetzen. Nur 19 Prozent gaben an, dass es ihnen leichter fiel.

Das ist das Ergebnis einer aktuellen und repräsentativen Forsa-Umfrage mit mehr als 3.500 Befragten im Auftrag der DAK-Gesundheit. Die Studie zeigt außerdem: Auch 2021 wünschen sich die Befragten weniger Stress, mehr Zeit für die Familie sowie Klima- und Umweltschutz. Diese Vorsätze fassen mehr als 60 Prozent. Je nach Alter und Geschlecht gibt es Unterschiede bei den gesteckten Zielen.

Die DAK-Gesundheit fragt jährlich die guten Vorsätze und die Umsetzung der Vorhaben aus dem Vorjahr ab. Der Hälfte der Befragten gelang es in diesem Jahr, die gesteckten Ziele länger als drei Monate durchzuhalten, weitere 23 Prozent hielten zumindest zwei bis drei Monate durch. In diesem Jahr der Corona-Pandemie fiel es jedoch 51 Prozent schwerer, die Vorhaben umzusetzen. Für 29 Prozent hatten Lockdown und Kontaktbeschränkungen keinen Einfluss auf ihr Durchhaltevermögen. Nur 19 Prozent gaben an, dass es Ihnen leichter fiel als in den Vorjahren.

Was bei der DAK-Umfrage rausgekommen ist. Grafik: DAK
Was bei der DAK-Umfrage rausgekommen ist. Grafik: DAK

Auf der Hitliste der guten Vorsätze für 2021 liegt Stressabbau mit 65 Prozent an der Spitze. Mehr Zeit für Familie und Freunde wünschen sich 64 Prozent der Befragten. 63 Prozent möchten sich umwelt- beziehungsweise klimafreundlicher verhalten. Auf Platz vier landet der Vorsatz, sich mehr zu bewegen oder Sport zu treiben (60 Prozent). Hier zeigt sich der stärkste Anstieg um vier Prozentpunkte im Vergleich zum Vorjahr. 53 Prozent möchten sich gesünder ernähren. Um zwei Prozentpunkte zurückgegangen ist hingegen der Wunsch, abzunehmen.

Auf die Frage, ob sie sich manche Dinge für das Jahr 2021 bewusst nicht vornehmen, weil sie sich in diesen Zeiten nicht oder nur schwer umsetzen lassen, gibt es unter den Befragten ein geteiltes Bild. Für 49 Prozent trifft das zu, 51 Prozent hingegen streiten es ab. Klarer ist die Haltung allerdings bei den älteren Befragten über 60 Jahre. Hier setzen sich 57 Prozent bewusst keine Vorsätze, weil sie der Meinung sind, diese in Zeiten von Corona nicht oder nur schwer umsetzen zu können.

Mit Abstand am häufigsten (70 Prozent) motiviert die Befragten ihr persönliches Empfinden, sich verstärkt um ihre Gesundheit zu kümmern. Für etwa jeden Zweiten sind eine akute Erkrankung oder die Aufforderung vom Arzt der Grund, gesünder zu leben. 41 Prozent sind motiviert, wenn der Partner einen Anstoß dazu gibt. Mehr als jeder Vierte (28 Prozent) sieht Angebote der eigenen Krankenkasse als hilfreich an.

Das Einschränken der Handy- oder Computernutzung ist mittlerweile ein neuer Klassiker der guten Vorsätze. 28 Prozent und damit ein Prozentpunkt mehr als im Vorjahr nehmen sich vor, in Zukunft weniger online zu sein. Männer und Frauen liegen hier gleichauf. Das Thema Alkohol treibt vor allem Männer um: 18 Prozent von ihnen haben den Vorsatz, 2021 weniger Alkohol zu trinken. Bei den Frauen sind es 12 Prozent. Diese möchten hingegen vor allem mehr Zeit für sich selbst. 55 Prozent der Frauen geben das als guten Vorsatz an, bei den Männern sind es 48 Prozent.

Unterschiede zeigen sich auch in den verschiedenen Altersgruppen: Jüngere nehmen sich besonders häufig vor, auf die Umwelt zu achten (73 Prozent). Das ist ein Anstieg um vier Prozentpunkte im Vergleich zum Vorjahr. Die Menschen in der sogenannten Rushhour des Lebens zwischen 30 und 44 Jahren wollen vermehrt Zeit mit der Familie und Freunden verbringen (74 Prozent). Stressabbau ist für die Altersgruppe der 45 bis 59-Jährigen besonders wichtig (70 Prozent). Umwelt- beziehungsweise klimafreundliches Verhalten ist auch bei älteren Menschen ab 60 Jahren besonders beliebt. Mit 59 Prozent ist dies der meistgenannte Vorsatz in dieser Altersgruppe.

Die Rangliste der guten Vorsätze für 2021

Stress vermeiden oder abbauen (65 Prozent)
Mehr Zeit für Familie/Freunde (64 Prozent)
Umwelt- bzw. klimafreundlicher verhalten (63 Prozent)
Mehr bewegen/Sport (60 Prozent)
Gesünder ernähren (53 Prozent)
Mehr Zeit für mich selbst (51 Prozent)
Abnehmen (34 Prozent)
Weniger Handy, Computer, Internet (28 Prozent)
Sparsamer sein (28 Prozent)
Weniger fernsehen (20 Prozent)
Weniger Alkohol trinken (15 Prozent)
Rauchen aufgeben (11 Prozent)

Gute Wünsche für optimierte Leistungsträger

Solche Umfragen haben immer ein Problem: Befrager mit stereotypen Erwartungen an „richtige“ Antworten treffen auf Bürger, die gelernt haben, dass es in einer Leistungsgesellschaft erwartete „gute Vorsätze“ gibt. Fast alle dieser Top-Antworten erzählen von der gelebten Bereitschaft, sich für Karriere und „Erfolg“ fit zu halten – durch mehr Sport, gesündere Ernährung, Abnehmen, weniger Handy, Computer, Internet. Und gleichzeitig diesem fast verschämten: Ja, mit meiner Familie möchte ich auch mehr Zeit erleben und auch noch mehr Zeit für mich selbst.

Können die Deutschen nicht rechnen? Oder sind sie auch Weltmeister im Selbstbetrug? Sie gehen acht Stunden zur Arbeit, stehen jeden Tag 20 Minuten im Stau – sodass sie in der Regel jeden Tag eine Stunde für den Weg zur Arbeit hin und zurück brauchen.

Und mehr als drei Stunden sind sie auch noch im Internet verschwunden – genauer: 204 Minuten, wie die Onlinestudie von ARD und ZDF 2020 ergab. Ein Wert, der seit Jahren immer weiter wächst, obwohl sie doch alle weniger daddeln wollen.

Rein rechnerisch bleibt da auch noch was übrig für Schlafen, Waschen, Familie. Aber für das Erholen und Entspannen ganz sichtlich nicht, sonst würden sich nicht 65 Prozent jedes Jahr wünschen, den Stress endlich abzubauen. Warum kündigen sie eigentlich nicht und machen was Ehrliches? Oder schaffen ihre elektronischen Spielzeuge tatsächlich ab? Über drei Stunden im Internet, das ergibt zwangsläufig Informationsüberflutung, Hypernervosität und am Ende auch unruhigen Schlaf. Aber ganz bestimmt keine Selbsterfahrung.

Die Lösung liegt nicht in diesem auch von den Krankenkassen forcierten „weniger von“.

Sondern im „mehr von“. Nicht in diesem irgendwie den Schwarzen-Nullen im Kabinett geschuldeten „sparsamer sein“, sondern im Verschwenden.

Man bekommt ja schon eine Gänsehaut, wenn man diese Rangliste der arbeitsoptimierten Leistungssklaven liest. Lebensfreude können die nicht mehr haben. Wann auch?

Denn augenscheinlich kommt niemand im Leistungsland Deutschland auf die Idee, sich einmal solche Wünsche wie unten vorzunehmen. Obwohl da das Menschsein wirklich erst beginnt.

1. Richtig faulenzen lernen.
2. Lieber Wandern als Joggen und dabei die Gedanken wirklich schweifen lassen.
3. Mehr Zeit nehmen für Wein, Weib und Gesang – und natürlich für das Rumtoben mit den Kindern.
4. Öfter mit dem Hund abhängen, den Freunden, dem Chor oder der Kegelrunde.
5. Mehr Liebesbriefe schreiben.
6. Öfter mal aufs Dach klettern und brüllen: Das Leben ist Wahnsinn!
7. Mehr gute Musik hören und mitsingen.
8. Kreuzfahrten und Flüge nach Bali doof finden und lieber mit Rucksack über die Alpen oder das Erzgebirge wandern.
9. Das Auto wirklich verschrotten und gegen ein ordentliches Fahrrad eintauschen und bei Parents for Future mitmachen.
10. Und sich jeden Tag im Spiegel sagen: Ich will aufhören, mich jedes Jahr immer wieder zu belügen. Ich bin zum Leben auf die Erde gekommen, nicht zum Schinden.

Erst wenn man das auch durch unsere Krankenkassen forcierte Denken als Leistungsträger ablegt, kann man anfangen, sich wieder in einen guten Menschen zu verwandelt, der sich nicht nur vornimmt, jeden Tag wieder zu genießen. Denn: Wem gehört eigentlich Ihr Tag?

Wann haben Sie sich das letzte Mal von Herzen gesagt: „Das Leben ist schön“?

Überlegen Sie ruhig.

Wenn Sie das nicht (fast) jeden Tag sagen können, machen Sie möglicherweise etwas falsch. Sie sollten ihre Neujahrs-Wunsch-Liste gründlich überarbeiten.

Die Umfrageergebisse stammen aus einer repräsentative Bevölkerungsumfrage durch Forsa, 3.510 Befragte. Erhebungszeitraum: 29. Oktober bis 24. November 2020.

Hinweis der Redaktion in eigener Sache

Seit der „Coronakrise“ haben wir unser Archiv für alle Leser geöffnet. Es gibt also seither auch für Nichtabonnenten unter anderem alle Artikel der LEIPZIGER ZEITUNG aus den letzten Jahren zusätzlich auf L-IZ.de über die tagesaktuellen Berichte hinaus ganz ohne Paywall zu entdecken.

Unterstützen Sie lokalen/regionalen Journalismus und so unsere tägliche Arbeit vor Ort in Leipzig. Mit dem Abschluss eines Freikäufer-Abonnements (zur Abonnentenseite) sichern Sie den täglichen, frei verfügbaren Zugang zu wichtigen Informationen in Leipzig und unsere Arbeit für Sie.

Vielen Dank dafür.

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar