Es müsste einem peinlich sein, würde man den Worten der Funktionsträger in der Politik tatsächlich einen Wert beimessen, der höher ist als der Kolumne ihres MP in spe a.D. immer neues Futter zu bieten, aus dem sich so wunderbar weich-warme Daunendecken der Kritik knüpfen lassen.

Auf der Suche nach diesem Futter – also besser gesagt: das interesselose Streunen, das ihr Kolumnist alltäglich durch die Nachrichtenlandschaft unternimmt – findet man viel Unrat, Agentur-Hausmüll, Dümmliches und Cleveres, und manchmal (da ist das Leben nun mal wie eine Hundewiese) findet sich auch ein Giftköder, den man lieber zur Seite oder direkt wegwirft.

Doch heute hab ich Hunger, heute beiß ich rein in den schleimigen Pfropfen, und werde nun hier in aller Öffentlichkeit den Begriff durchkauen und verdauen, der seit Jahren meine persönliche Unsinnliste anführt: den der Ideologie, beziehungsweise der Mode entsprechend: die Ideologiefreiheit.

Landauf, landab findet das Credo der Dämlichen seine Verwendung. In Pressemitteilungen, Interviews, in Wahlprogrammen und auf Bierdeckeln, überall tönen sie mit Stolz in der Brust, mitschwingen lassend, dass sie ganz besonders doll nachgedacht haben, und sehr sehr reflektiert sind. Einfach „ideologiefrei“.

Das soll uns auch sagen, sie sind das rechte Gegenteil von „woke“. Denn dank unzähliger Dekaden andauernden Diskreditierung jeder nicht-marktförmigen Denkungsart, klingt schon das Wort „Ideologie“ für die Mehrheit der Leute nach Verfassungsschutzbericht. Ideologien, das haben nur die Extremisten. Es könnte wirklich so einfach sein.

Es ist aber auch wirklich viel zu einfach. Will man sagen „Ausländer raus!“ aber traut sich nicht, und vor allem seinen Wählerschaften keinen solch offenen Rassismus zu, dann sagt man einfach: „Wir müssen ideologiefrei über die Asylfrage reden.“ Oder wenn es um sprachkritische Zärtlichkeiten geht, wie immer-und-immer-und-immer wieder über das (nicht erschrecken!) Gendern, dann hilft auch der Verweis auf die „Ideologiefreie Sprache“.

Cover Leipziger Zeitung Nr. 122

Man will auch schon von ideologiefreiem Umgang mit dem Thema Essen, Energie, Schule, Veganismus, und sogar dem Wolf gehört haben. Gibt es also ein schöneres Verbalvehikel, als den anderen „Ideologie“ vorzuwerfen? Aktuell offenbar nicht, so denn man nicht gewillt ist, es gleich auf den Belzebub schlechthin zu schieben: „Die Grrrünen!“ (H. Seehofer).

In der Logik der Sprachverhunzer wäre es also durchaus angebracht, auch einmal ideologiefrei über Dinge wie Autobahnen, Wurst oder generell Deutschland nachzudenken. Ich würde gerne das Gespräch nicht nur sehen, in dem Aiwanger, Merz und Christoph Lindner versuchen, eine Stunde lang „ideologiefrei“ über Politik zu sprechen, sondern am besten mit einem roten Buzzer daneben sitzen und jedes Mal „Tröööt“ machen, wenn ein Ideologem aus den Plappermäulern herauspurzelt. Es wäre eine sehr, sehr lärmintensive Sendung.

Die Ideologie des Marktes, die Ideologie des Fleisches, die Ideologie des Autos, die Ideologie des Patriotismus, die Ideologie des Bankenwesens, die Ideologie der Superyachten, die Ideologie der Marsmissionen, all die Ideologien, die da draußen in den Köpfen liegen und ihren Trägerinnen das Gefühl geben, etwas im Kopf zu haben, sind tatsächlich etwas, was den Abstand zwischen den Ohrmuscheln aufrechterhält, aber womöglich vor allem großer Unsinn.

Wer kann schon ernsthaft von sich behaupten, ideologiefrei zu sein? Genau. Doch es kommt darauf an, die Welt zu verändern, sagt der alte Kalle, und da dürfen Sie, geneigte Lesende, auch gerne ihre Schippe mit drauflegen. Aber bitte bitte, lassen Sie sich bloß nicht einreden, es müsse „ideologiefrei“ zugehen. Wenn dem so wäre, hieße der Kanzler demnächst Söder und sein Schoßhund hieße Tino. Und ganz ideologiefrei gefragt: Das kann doch keiner wollen, oder?

Bleibt frei von Zweifeln, aber nicht von Ãœberzeugungen,
Ihr MP in spe a.D.
Tom Rodig

„Rodig reflektiert: Ideologiefrei“ erschien erstmals im am 08.03.2024 fertiggestellten ePaper LZ 122 der LEIPZIGER ZEITUNG.

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