„Ich habe meine Mission erfüllt.“ Das war einer der zentralen Sätze in einem der letzten Gespräche, die ich mit Alt-Thomaskantor Georg Christoph Biller führen konnte – jedes Wort sorgfältig formend, weil ihm das Sprechen zunehmend schwerer fiel, aber umso nachdrücklicher in der Aussage.

Am Donnerstag, 27. Januar 2022, ist Biller nach langer Krankheit im Alter von 66 Jahren gestorben. Seine Mission war, der geistlichen Musik, insbesondere der von Johann Sebastian Bach, zu dienen, die Musiktradition der THOMANA zu pflegen und den Thomanerchor in eine gute Zukunft zu führen. Dieser Aufgabe sah er sich bis zuletzt verpflichtet – auch durch sein reiches kompositorisches Schaffen.

Doch nun war sie in seinen Augen erfüllt – nicht zuletzt, weil er mit dem neuen Thomaskantor Andreas Reize den Chor und die Sache der THOMANA in den richtigen Händen wusste. Mit Reize hatte er in den letzten Monaten seines Lebens noch einen regen Gedankenaustausch.

Georg Christoph Biller wurde am 20. September 1955 in Nebra geboren. Er wuchs in einem Pfarrhaus im Kreis von drei weiteren Geschwistern auf. Mit 10 Jahren wurde er Mitglied des Thomanerchors Leipzig. So sehr dies seinem Wunsch entsprach, so tief war für ihn der Einschnitt, das Elternhaus zu verlassen und auf die mütterliche Zuwendung im Alltag verzichten zu müssen. Diese Zäsur begleitete ihn ein Leben lang.

Aufgrund seiner sängerischen und musikalischen Begabung bekleidete Biller im Thomanerchor das Amt des Präfekten. Nach dem Abitur nahm er das Studium für Gesang und Orchesterdirigieren an der Musikhochschule Leipzig auf. 1976 gründete er das Leipziger Vocalensemble (LVE), welches er bis Mitte der 90er Jahre leitete – damals für viele Sängerinnen und Sänger eine Oase in der geistigen und geistlichen Dürre der DDR-Zeit. Noch heute gehört das LVE zu den herausragenden Chören Leipzigs.

1980 übernahm er die Leitung des Gewandhauschores, die er bis 1991 innehatte. Durch die Friedliche Revolution und die deutsche Einheit 1989/90 eröffneten sich Biller neue Möglichkeiten, seine Erfahrungen als Chordirigent weiterzugeben. So war er ab 1990 als Dozent an den Musikhochschulen in Detmold und Frankfurt/Main tätig. 1992 wurde er vom Rat der Stadt Leipzig im Einvernehmen mit dem Kirchenvorstand der damaligen St. Thomas-Matthäi-Gemeinde zum Thomaskantor und damit zum 16. Nachfolger von Johann Sebastian Bach gewählt.

22 Jahre hatte Biller das älteste Kulturamt der Stadt Leipzig inne. Im Januar 2015 musste sich Biller krankheitsbedingt aus dem Amt verabschieden, das er in entscheidender Weise geprägt hat.

Da war der kongeniale Kirchenmusiker und komponierende Thomaskantor, der geistliche Tiefe, liturgisches Gespür und musikalische Professionalität miteinander verbinden konnte. Dadurch hat er nicht nur die Motetten und Gottesdienste profiliert, sondern ließ jedes Konzert zu einem geistlichen Ereignis werden. Biller lag die liturgische Stimmigkeit von Gottesdiensten und Motetten besonders am Herzen.

Die Menschen sollten den Besuch gottesdienstlicher Veranstaltungen als „Gewinn“ erfahren. Darum wurde mit Billers Amtsantritt der Freitagsmotette die liturgische Form der Vesper unterlegt. Außerdem hat er die musikalischen Programme der Motetten und Gottesdienste ganz auf den biblischen Inhalt des jeweiligen Sonn- und Feiertags ausgerichtet, so dass das Kirchenjahr musikalisch erfahrbar wurde.

Biller erwies sich als der unbequeme, kantige, widerständige, vor allem aber ideenreiche Vordenker der THOMANA, der Trias von Kirche, Chor und Schule. Damit machte er es sich selbst und anderen nicht immer leicht. Biller war kein Beziehungsmensch. Aber von den Thomassern wurde er respektiert und im besten Sinne geliebt. Dass der Chor eines Umfeldes bedarf, in dem Kinder und Jugendliche umgeben sind von musikalischer Bildung, hatte er früh erkannt und 1998 in einem Memorandum zur „wohlbestallten Kirchenmusik“ niedergelegt.

Daraus ist ab 2002 die zunächst belächelte Vision „forum thomanum“ entstanden. Gemeinsam haben wir dann die Realisierung des musikalischen Bildungscampus eingefordert, vorangetrieben und verteidigt. Der Name Georg Christoph Biller wird mit dem nun Wirklichkeit gewordenen forum thomanum immer verbunden bleiben.

Biller hat sich keiner Initiative verschlossen, die das Erbe Bachs in seinen geistlichen Bezügen zum Ziel hatte. Seinem Insistieren auch als musikalischer Intendant der Bachfeste ist es zu verdanken, dass seit 1999 die Bachfeste in Leipzig jährlich stattfinden und in den Gottesdiensten und Motetten ihren Nukleus haben. Nach dem großen Bachfest 2000 war er der Ideengeber für die Stiftung „Chorherren zu St. Thomae“. Er schlug damals vor, an die alte Tradition der Augustinerchorherren anzuknüpfen.

Im Rückblick können wir dankbar feststellen: Diese Idee hat wesentlich dazu beigetragen, dass mit dem Kauf der villa thomana die Initialzündung für den Bildungscampus forum thomanum gegeben wurde. Der Stiftung ist auch zu verdanken, dass das Bachfest sich hervorragend entwickeln konnte. Eine besondere Freude war, dass Biller die Stiftung im vergangenen Jahr in hervorragender Weise unterstützt hat. So wurde er kurz vor seinem Tod vom Kuratorium der Stiftung zum Chorherrn zu St. Thomae ernannt. Leider ist es ihm nicht mehr vergönnt, die Einführung als Chorherr zu St. Thomae beim diesjährigen Bachfest zu erleben.

Sicher war das Jubiläumsjahr 2012 „800 Jahre THOMANA“ mit seinem Motto „glauben, singen, lernen“ für das Kantorat Billers ein grandioser Höhepunkt. Hier wurde der Reichtum seines Wirkens für unzählige Menschen aus aller Welt sicht- und vor allem hörbar. Er war es auch, der 2008 den Startschuss für die Vorbereitung zum Jubiläum gegeben hat – frühzeitig, was eine Bedingung für den Erfolg war. Schließlich hat Biller gerade in diesem Jubiläumsjahr einen wunderbaren Einblick in sein reiches kompositorisches Schaffen gegeben.

Georg Christoph Biller hat im letzten Gottesdienst am 6. Januar 2015, in dem er als Thomaskantor wirkte, als Introitus die gleiche Motette singen lassen, die auch am Anfang seiner Tätigkeit am 6. November 1992 stand: „Herr Christe, tu mir geben“ von Johannes Eccard (1553-1611). Mit dieser Motette ist Biller in seiner Thomanerzeit groß geworden. Sie war für ihn Programm, hat ihn in all den Jahrzehnten getröstet und aufgerichtet: „deinem Wort fest zu glauben, wandeln auf rechter Bahn, dass ich das Ziel erreiche und ja davon nicht weiche, sondern bleibe bestahn.“

Biller hat sein Wirken, sein Amt, den Thomanerchor immer in den Dienst dieser Bitte gestellt: aufrecht und standhaft bleiben. Biller wollte sehr viel mehr, als einen bedeutenden Knabenchor leiten. Er wollte dieses älteste Amt der Stadt Leipzig neu verorten und profilieren – und hat es tatsächlich zu neuem Glanz geführt.

Leider war es Biller nach seinem Rücktritt als Thomaskantor nur noch eine kurze Zeit möglich, weiter musikalisch und kompositorisch zu wirken. Die Krankheit schritt unaufhaltsam voran. So lag ihm am Herzen, dass das große Werk von Max Reger (1873-1916) mehr Würdigung und Beachtung erfährt. Zwei Mal veranstaltete er eine „Regeriade“ – ein musikalisch-kulinarischer Abend ganz im Geiste Regers.

Anlässlich seines 65. Geburtstages hatten Freundinnen und Freunde von Biller am 20. September 2020 ein Konzert in der Peterskirche organisiert. Dort wurde u.a. seine Komposition „Frieden machen“ aufgeführt – ein „poetischer Kommentar” von Carola Moosbach zur Kantate „Ach lieben Christen seid getrost“ (BWV 114), die auch zu Gehör kam.

Moosbach beschreibt, was Menschen in ihrer Hinfälligkeit erleben: Schon am Morgen Schmerzen, zumindest im Kopf; Wut darüber, dass Geist und Körper nicht so funktionieren, wie wir uns das wünschen; und dann am Abend und in der Nacht die Alpträume. Biller bemerkte dazu in seiner Werkerläuterung: „In dem Text ‚Frieden machen‘ geht es um das Sich-Abfinden mit dem eigenen Schicksal.“

Ja, Biller hatte sich mit seiner schweren Krankheit, die ihn seit Ende 2019 an den Rollstuhl fesselte, durchaus abgefunden – auch in dem Sinn, dass er sein Schicksal angenommen hat. Und so konnte er die Bitte bejahen, die im Schlusschoral der o.g. Kantate zum Ausdruck gebracht wird: „Gib deinen Leib und deine Glieder / Gott, der sie dir gegeben, wieder.“

Viele Menschen werden um Georg Christoph Biller trauern – vor allem seine drei Geschwister und seine Frau Ute Loeck. Ihnen gehört unsere Anteilnahme. Aber auch viele ehemalige Thomasser werden ihren Kantor vermissen. Die Stadt Leipzig und die Thomaskirche haben mit ihm eine herausragende Persönlichkeit verloren.

Ich selbst blicke dankbar auf eine in 30 Jahren stetig gewachsene Nähe und Freundschaft, vor allem aber für die THOMANA sehr ertragreiche Zusammenarbeit zurück. Wir konnten uns vor allem auch in den schweren Zeiten des Lebens beistehen und aufeinander verlassen. Am Schluss bleibt die Dankbarkeit dafür, dass Biller uns immer wieder unvergessene, tröstende, aufrichtende musikalische Momente geschenkt hat.

Dass sich die Thomaskirche zu einem zentralen Ort des Glaubens, des Geistes, der Musik in einer säkularen Stadtgesellschaft entwickeln konnte, ist nicht zuletzt das Verdient von Alt-Thomaskantor Biller. Gott möge ihm nun den Frieden schenken, den Biller zeit seines Lebens gesucht hat und dem er sich verpflichtet wusste.

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