Das Fest der Feste naht mit riesengroßen Schritten, auch wenn der Oktober so tut, als wäre er noch gar kein Herbst und es wäre noch Zeit, sich in Weihnachtslaune zu bringen. Aber dann geht es ja, wie alle wissen, ganz schnell. Dann ist es da, das Fest. Hat man vorgesorgt? Die Leipziger, die ihren Thomanerchor lieben, haben natürlich längst ihre Karten besorgt. Am 28. September startete ja der Vorverkauf für den Weihnachtsliederabend. Und den gibt es jetzt sogar auf CD.

Denn das 70-minütige Programm mit Weihnachtsliedern von Brahms und Mendelssohn bis Biller hat der Thomanerchor unter Leitung von Thomaskantor Andreas Reize auch 2022 schon dargeboten. Im Januar 2023 ging der Chor dann in die Paul-Gerhardt-Kirche und sang das komplette Weihnachtsliederprogramm noch einmal für die CD ein. Die jetzt natürlich viele Freunde des Chores erfreuen wird und einstimmen auf das hohe Fest. Womit das mit dem Einstimmen genau so gemeint ist.

Die Erwartung hörbar machen

Denn die 19 Lieder, die der Thomaskantor für dieses Programm ausgewählt hat, bilden tatsächlich den Spannungsbogen des Advents ab – beginnend vom 1. Advent mit einem großen Hosanna von Friedrich Weissensee, einem Komponisten des späten 16. Jahrhunderts, das im Grunde schon die ganze Erwartung in eine gloriose Musik packt. Und natürlich die Zuhörer daran erinnert, dass es hier um ein zutiefst christliches Fest geht.

Das vergisst man ja in unserer Zeit mit ihrer meist aufgesetzten Fröhlichkeit nur zu gern: Wie sehr Konsum und Berge von Geschenken die eigentliche Botschaft übertönen und übertünchen. Die Botschaft, dass man nämlich eigentlich auf die Geburt eines Kindes wartet. Mit einem Berg von Erwartungen natürlich. Die sich in christlichen Liedtexten noch viel feierlicher darstellen. Denn es steckt immer noch ein bisschen mehr drin, als es die zugrunde gelegten biblischen Texte aussagen.

Auch wenn die Zusammenstellung der Lieder explizit darauf verweist, dass hier eine christliche Tradition in Musik gefasst ist, die bis ins 4. Jahrhundert zurückreicht. Und Komponisten bis in die Gegenwart immer wieder dazu animiert, Texte aus dem Neuen Testament in Lieder zu verwandeln. Möglichst in solche, welche die Stimmfülle des Leipziger Knabenchores zur vollen Entfaltung bringen. Und natürlich lebt das Konzert von diesen Stimmen, die den „König der Könige“ (ein Lied von Gustav Brand) feiern.

Wenn die Hirten und Könige kommen

Und wer schon mit Weißensees „Hosanna“ eingestimmt war auf die Vorfreude und mit den ersten Adventsliedern in Besinnlichkeit und Nachdenklichkeit eintauchte, merkt spätestens mit „Kommet, ihr Hirten“ dass das Warten auf seinen Höhepunkt zusteuert. Denn wenn die Hirten kommen, kann es bis zur Geburt des Kindes in Bethlehem nicht mehr weit sein. Die dann mit unsterblichen Liedern wie „Vom Himmel hoch, da komm’ ich her“ und „Es ist ein Ros entsprungen“ auch gefeiert wird, geradezu jubiliert.

Denn dazu hat ja der Thomanerchor seine jungen Stimmen, die den Jubel in diesen Liedern ganz hinauftragen. Bis unters Kirchendach. Bis ins Sternenzelt.

Und man kann sich mit hinauftragen lassen. Und dennoch die ganze Freude verspüren, dass ein neuer Mensch geboren wurde. So etwas Irdisches. Ein Kind. Eigentlich geht über diese Freude nichts mehr hinaus. Was also tut man danach?

Das lässt Reizes Liedauswahl dann geradezu lyrisch ausklingen mit „The Little Drummer Boy“. Der großen Freude folgt die allumfassende Zuversicht: Alles wird gut. „I am a poor boy too. / I have no gift to bring.“ Aber das ist egal. Nicht jeder ist ein König, der mit reichen Gaben an die Krippe kommen kann. Und was schert das sowieso den kleinen Burschen darin? Der freut sich schon, wenn einer die Trommel für ihn spielt.

Haben wir noch Platz für Freude?

Womit das Liederprogramm auch schon ins Besinnliche hinüberleitet und endet mit „Weihnacht“ von Erhard Mauersberger und „Stille Nacht, heilige Nacht“ von Gustav Schreck und Georg Christoph Biller – also zwei Würdigungen für zwei komponierende Thomaskantoren. Wobei die Reihenfolge bei „Stille Nacht, heilige Nacht“ eher Biller, Schreck heißen muss.

Denn der völlig anderen Interpretation des Textes von Joseph Mohr folgt quasi im Zwiegespräch die traditionelle Melodie von Gustav Schreck. Was den Abend rund macht, der moderne Kompositionen des 20. Jahrhunderts immer wieder ins Zwiegespräch bringt mit den klassischen Weihnachtsmelodien. Das Fest also genauso historisch verortet, wie dabei nach dem Ton gesucht wird, der uns heute noch mit diesem Fest und seiner christlichen Botschaft verbindet.

Haben wir noch Platz in uns für diese Freude, die Besinnung und den Jubel über das Menschlichste, was uns passieren kann? Oder haben wir nicht mal die Zeit und die Ruhe, mit allen Sinne zu warten auf das, was kommt?

Alles Fragen, die immer mitschwingen in diesen Liedern, die gerade in den frühen Adventstagen auch von Hoffnung singen, vom „dünnen Reiserlein“ (Hugo Distler) oder vom Trost (Heinrich Schütz). Also von einer Begegnung auch mit unseren ängstlichen Gefühlen, dem Bangen und Fürchten, die – wie wir alle wissen – gerade wieder übermächtig sind.

Da hat dieses Fest im Jahr 2023 – genauso wie 2022 – wieder eine ganz aktuelle und weltliche Bedeutung, die man wieder fühlen sollte. Denn das erzählt ja die Weihnachtsgeschichte: Dass die Lösung für allen Zwist nur der Frieden ist. Der mit sich selbst und der in der Welt.

Nur geschenkt wird er uns nicht. Das stimmt. Aber man kommt ihm ein Stück näher, wenn man wieder auf das wehrlose Kind in der Krippe schaut, mit dem alles anfängt. Auch und gerade unser Wissen um die Verletzlichkeit all dessen, was uns mit dieser Welt wirklich verbindet.

Thomanerchor Leipzig, Thomaskantor Andreas Reize „Weihnachtsliederabend“, Rondeau Production, Leipzig 2023, CD ROP4056, EAN Code: 4037408040563.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar