Die Pioniere ziehen weiter. Aber wohin nur? Der jährlich steigende Zuwachs der Leipziger Bevölkerung sorgt dafür, dass sich die Stadt immer weiter verdichtet. Und immer schneller. Hatten in den 1990er Jahren die Südvorstadt und Connewitz zehn Jahre Zeit, sich zu den geburtenstärksten Stadtquartieren zu entwickeln, verkürzt sich diese Phase mit jedem Ortsteil, der vom Bevölkerungsaufschwung erfasst wird. Leipzigs Statistiker haben im neuen Quartalsbericht jetzt den Leipziger Osten unter die Lupe genommen.

Denn Manches deutet darauf hin, dass der Leipziger Westen, der gerade erst vor drei Jahren von der Zuwanderungswelle erfasst wurde, schon wieder in eine Phase kommt, in der die ursprünglichen Siedlungspioniere, die sich die neuen, höheren Mieten nicht leisten können, verdrängt werden. Das, was man so gern als Kreative bezeichnet, aber auch Künstler und Studierende gehören dazu. Sie bespielen Brachen und unsanierte Häuser, haben kleine Cafés, Galerien und Ladenlokale eröffnet. Eine Zeit lang spielte hier die Musik dessen, was man so gern als alternative Szene bezeichnet. Doch wenn erst einmal der Sanierungszug durch die Ortsteile walzt, wird preiswerter Wohnraum – also unterm üblichen Leipziger Mietniveau von 5 Euro je Quadratmeter, schnell knapp.

Nur ein Bild scheint nicht zu stimmen: das Bild von der Karawane.

Denn dann müssten die fünf Ortsteile, die man so landläufig unter Leipziger Osten zusammenfasst (Neustadt-Neuschönefeld, Volkmarsdorf, Anger-Crottendorf, Sellerhausen-Stünz und Reudnitz-Thonberg) einen positiven Wanderungsaldo innerhalb der Stadt Leipzig haben. Den haben sie aber (mit der kleinen Ausnahme Sellerhausen-Stünz) nicht. Trotzdem verzeichnen sie alle seit 2010 einen Bevölkerungszuwachs. Natürlich von einem absoluten Tiefpunkt aus, den sie allesamt – genauso wie die Stadt Leipzig – im Jahr 2000 erlebten. Da war der Leipziger Osten (gemeinsam mit dem Leipziger Westen) schon als Sanierungsgebiet definiert, bekam deutliche Unterstützung aus EU-Programmen und dem Programm Soziale Stadt, weil gerade Neustadt-Schönefeld und Volksmarsdorf drastische soziale Verwerfungen drohten.

Der Blick ins Detail zeigt: Die fünf Ortsteile entwickeln sich sogar unterschiedlich. Einer profitiert schon etwas länger – nämlich seit 2005 – von der positiven Bevölkerungsentwicklung. Das ist Reudnitz, das als einziger der fünf Ortsteile heute schon mehr Bewohner hat als 1991.

Eine Sonderrolle spielt auch das eher am Stadtrand gelegene Sellerhausen-Stünz, das stark von Einfamilienhäusern geprägt ist, was direkte Folgen für die Bevölkerungsentwicklung hat: Die Leute sind sesshafter, im Durchschnitt deutlich älter als die Stadtbevölkerung und die Geburtenrate ist entsprechend niedrig. Aber es sind ja nicht die Eigenheimsiedlungen in Sellerhausen-Stünz, die eine Rolle in der Stadtplanung spielen, sondern die historischen Teile aus der Gründerzeit insbesondere an der Wurzner Straße, die derzeit so ein etwas abseitiges Leben führt. Dass Sellerhausen eher nicht von den üblichen Besiedelungspionieren entdeckt wird, ist an der Mietpreisentwicklung ablesbar. Von 2008 bis 2013 schoss das Mietniveau hier auffällig vom niedrigeren Niveau des Leipziger Ostens (4.41 Euro je Quadratmeter) auf das Leipziger Durchschnittsniveau von 5 Euro hoch. Das erzählt von Aufwertung und Sanierung. Und es erzählt von einem Mieterklientel, das dort etwas anderes sucht als Freiräume und niedrige Mieten – eher Ruhe, Grün und eine gehobenere Ausstattung.

Aber wer zieht dann nach Neustadt-Neuschönefeld und Volkmarsdorf? Nur lauter Menschen mit Migrationshintergrund, wie es in manchen Medien zu lesen steht? Nur lauter ALG-II-Empfänger? Beide Quoten sind hier hoch. Schon seit Jahren. Das ändert sich nicht über Nacht. In Volkmarsdorf liegt die Quote von SGB-II-Leistungsempfängern noch immer bei 42,5 Prozent, im benachbarten Neustadt-Neuschönefeld bei 34,1 Prozent. In Anger-Crottendorf liegt sie bei 26,5, in Sellerhausen-Stünz bei 24 Prozent. In Reudnitz tendiert sie mit 19,2 Prozent schon Richtung Leipzig-Niveau, das bei 17,1 Prozent liegt. Überall sinken diese Zahlen. Es tut sich durchaus etwas bei der Schaffung von Beschäftigung in Leipzig, auch wenn gerade Menschen mit fehlendem Berufsabschluss, gebrochener Berufskarriere oder Migrationshintergrund größere Schwierigkeiten haben, auf dem regionalen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen.

Auch weil sich solche Lebenslagen vererben. Sozial schwachen Familien fehlt in der Regel der finanzielle Puffer, ihre Kinder auf eine erfolgversprechendere Bildungslaufbahn zu schicken. Im Gegenteil: In Volkmarsdorf und in Neustadt-Neuschönefeld wachsen über 60 Prozent der Kinder in Familien auf, die auf Sozialgeld angewiesen sind.

Das ergibt Lebensschicksale, die ein wenig an das ermüdende Leben von Sisyphos erinnern. Und das drückt sich sogar in Wahlergebnissen aus, die im Leipziger Osten sogar symptomatisch sind. Bei der Bundestagswahl 1998 rauschte die Zustimmung für die Kohl-CDU in den Keller. Zu sehr empfanden die Wähler aus dem Leipziger Osten die persönliche und wirtschaftliche Stagnation, setzten alle Hoffnung auf die neue Rot-Grüne Regierung – und wurden bitter enttäuscht. Was sich dann ab 2005 in den Wahlergebnissen für die SPD widerspiegelte. Man hat im Leipziger Osten sehr wohl erkannt, wer “Hartz IV” mit zu verantworten hatte. Und dafür wird die SPD bei jeder Bundestagswahl abgestraft. Im Leipziger Osten auf jeden Fall. Aber die Genossen scheinen es einfach nicht bemerkt zu haben, dass Wähler beim Wählen vor allem eines erwarten: eine Verbesserung der persönlichen Chancen.Alles im Quartalsbericht ist auch schön mit Grafiken unterlegt. 13 Seiten widmet das Heft dem Leipziger Osten. Und klärt natürlich auch, wen es denn nun in den Leipziger Osten zieht, wo heute zwar 21 Prozent der Wohnungen noch als “leer stehend” gezählt werden – was aber eben nicht unbedingt heißt “vermietbar”, wie jüngst das Beispiel Eisenbahnstraße 43 zeigt. Der Bevölkerungsbaum von 2013 zeigt vor allem eines: Es sind junge Erwachsene zwischen 18 und 34 Jahren, die jetzt für deutlich sichtbare Veränderungen in den Gebieten rund ums Rabet sorgen. Aber wer glaubt, dass das alles Migranten sind, der irrt. Auch wenn der Ausländeranteil in Neustadt-Schönefeld und Volkmarsdorf mittlerweile bei 22 Prozent liegt (Stadtdurchschnitt: 6,1 Prozent). Nach Adam Ries heißt das trotzdem noch, dass nur jeder fünfte Einwohner dieser beiden Ortsteile jemand mit Migrationshintergrund ist.

Den größten Teil des Bevölkerungswachstums im Leipziger Osten lösten Zuwanderer aus der näheren Umgebung Leipzigs aus – aus Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt, aber auch aus den etwas älteren Bundesländern kamen junge Leute. Und was sie hier wollen, zeigt eine Grafik sehr deutlich, die den Anteil von Studierenden im Inneren Osten auf mittlerweile 15 Prozent beziffert – der Stadtdurchschnitt liegt bei 7 Prozent. Ein klarer Fall: Es sind wieder Leipzigs Studierende, die sich als Wohnpioniere entpuppen und die Ortsteile im Leipziger Osten nicht nur als billige, sondern auch als attraktive Wohngegend für sich entdeckt haben. Und unter den fünf Ortsteilen dominiert unübersehbar Neustadt-Schönefeld mit 25 Prozent. Es folgen Reudnitz-Thonberg mit 16 Prozent und Anger-Crottendorf mit 15 Prozent. Das will etwas heißen für die nächste Zukunft, denn genau so hat das mal in der Südvorstadt angefangen und genau so war es jüngst noch in Lindenau.

Denn die Studierenden kommen zwar, einige ziehen auch wieder weg. Einige ziehen auch weiter, wenn sie sich etabliert haben. Aber sie verändern eben auch die Atmosphäre eines Stadtteils, geben dem eh schon bunten Gequirl des Leipziger Ostens noch einen Spritzer hinzu. Und nicht nur sie. Auch bei älteren hochgebildeten Leipzigern ist der Leipziger Osten attraktiv. Sie beziehen Lofts in umgebauten Fabrikgebäuden, bauen sich Stadthäuser oder sanieren – wie in Neustadt exemplarisch zu sehen – alte Häuser mit zum Teil ausgefallenen Ideen.

Das Ergebnis: Der Innere Osten hat heute schon mit 20 Prozent einen höheren Anteil von Bewohnern mit Hochschulabschluss als die Gesamtstadt (16 Prozent). Die so genannten Intellektuellen in Leipzig reden nicht nur vom Stadtumbau und erwarten dann, dass andere die Veränderungen bewirken, sie gestalten ihn selbst, indem sie die neuen Quartiere auch selbst besiedeln. Das bringt auch im Leipziger Osten so langsam das Baugeschehen in Gang, lässt die Einkommen steigen, erhöht den Anteil der Haushalte, die ihr Einkommen durch Erwerbsarbeit erzielen (auf Leipziger Niveau) und auch die Lebenszufriedenheit.

Die Zahlen zu den fünf Ortsteilen machen sehr deutlich, wie sich der Leipziger Osten gerade entpuppt und dabei ist zum Schmetterling zu werden. Auch wenn in diversen Zeitungen und Verlautbarungen diverser Parteien immer noch die Angst der 1990er Jahre steckt. Die werden diese alten Leute wohl auch nie mehr los. Angst natürlich vor allem, was so fremd scheint. Womit wir wieder bei den Migranten wären, die zu einem erheblichen Teil zum Leipziger Bevölkerungswachstum beitragen.

Dazu morgen mehr an dieser Stelle.

Der Statistische Quartalsbericht I / 2014 ist im Internet auf http://statistik.leipzig.de unter “Veröffentlichungen” einzusehen.

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