Träumen? Gerne, denn mehr geht nicht: "Die da oben machen ja doch, was sie wollen!" Wahrscheinlich bin ich nicht der einzige Mensch, der mit diesem Satz aufgewachsen ist. Auch in der Schule oder während des Studiums hat dieses Bild die Sichtweise auf meine Umwelt geprägt.

Dieses Jahr verbringe ich die Feiertage nicht mit der Familie am Meer, sondern ich arbeite in politischen Gruppen vor Ort. Dabei hatte ich bis zum Sommer mit Politik nichts zu tun. Inzwischen definiere ich mich als politischer Aktivist. Politik bewegt Gesellschaft, darin steckt Chance und Gefahr.

Die Signale der Menschenmassen auf den Dresdner Straßen sollten ernst genommen werden. Nach den Montagsdemos, HoGeSa ist PEGIDA / LEGIDA die Dritte Welle eines Angriffs auf die demokratische Freiheit – Leipzig betrachte ich dabei als einen Fels in der Brandung. Hier wurden im Sommer schon die neu aufkommenden Montagsdemos “Für den Frieden” kontrovers diskutiert. Noch im Sommer zog es mich aufgrund der eigenen Unzufriedenheit jeden Montag selbst auf der Straße. Trotzdem war ich nicht dem Glauben erlegen, dass MuslimInnen oder Flüchtlinge eine Bedrohung für mich darstellen. Auch nicht, dass irgendwelche Minderheiten an offensichtlich verkorksten Zuständen schuld sind.

Wenn überhaupt, dann ist es die mehrheitlich schweigende Masse. Dass die Montagsdemos zentral gesteuert waren und letztendlich auch nur das Ziel hatten, von rechtskonservativen Parteien instrumentalisiert zu werden, erschloss sich mir erst während der Mitwirkung an der Organisation.

Für den Großteil der Teilnehmer von PEGIDA /LEGIDA kann ich aufgrund meiner, zugegeben jungen, politischen Entwicklung Verständnis aufbringen. Einerseits besteht das Ohnmachtgefühl gegenüber einem komplexen System. Andererseits werden irrationale Ängste geschürt und somit gegen Minderheiten mobilisiert. Damit kann ich dann überhaupt nichts anfangen. Das Menschen sich vom Sofa aufraffen und politisch aktiv werden wollen, ist ein großartiges Signal. Veränderung durch einen Spaziergang herbeizuführen, ist eine gute Idee – nur bitte nicht als ressentimentgeladene Großdemonstration des vermeintlichen Volkes. 17.000 Menschen, teilweise angereist, entsprechen gerade einmal 3,3 % der Dresdner Bevölkerung.

Der Geist der friedlichen Revolution von 1989 schwebt noch immer über Leipzig. Reisefreiheit und das Ende der SED waren notwendige Zwischenschritte. Sich dem ungebremsten Diktat marktwirtschaftlicher Mechanismen zu unterwerfen, war sicher nicht geplant.

Bundes-, Landes- und Kommunalpolitisch sind Regierungsparteien und Oppositionen auf unablässige Fragen und harte Kritik zur Meinungsfindung angewiesen – nur bitte nicht auf Kosten von Flüchtlingen und anderen Minderheiten. Nicht bei der Geschichte dieses Landes. Vor allem nicht, so lange eine von wirtschaftlichen Interessen geprägte Politik eine nicht unerhebliche Mitschuld an der Lebenssituation von Geflüchteten trägt.
Was die Menschen auf der Straße bewegt, ist greifbarer als das komplexe System. Es sind Ängste vor sozialem Abstieg durch Arbeitsplatzverlust, Hartz IV und ein zu geringes Rentenniveau im Alter.

Wenn die Menschen in der falschen Demo laufen, sollten sich auch die Gewerkschaften angesprochen fühlen. Sie sind es, die im Unternehmer- und Politikerlager Druck erzeugen und dafür sorgen können, dass sich Lebensumstände verbessern bzw. ein sozialer Abstieg verhindert wird – nichts anderes ist ihre Funktion.

Ich sehe jedoch auch, dass das Spiel um Geld und Macht bei immer mehr Menschen an Bedeutung verliert. Es entsteht eine neue Art von Zivilgesellschaft, organisiert von Menschen in Kollektiven. Es fällt kein Wort von Vielfalt oder Toleranz, denn das sind gelebte Werte mit praktischem Nutzen. Diese Art der Zivilgesellschaft ist in Metropolen Europas zu Hause. Nicht zuletzt, weil die Auswirkungen der sozialen Ungerechtigkeit vielerorts drastischer zu spüren sind als hier bei uns. Weil staatliche Sicherungssysteme versagen und auch gut ausgebildete Menschen sich selbst organisieren müssen.

Auch wenn die Auswirkungen sozialer Missstände hier noch nicht so stark zu spüren sind, bundesweit ist Leipzig ein Mekka für diese Art der solidarischen Zivilgesellschaft. Ich träume von einem Leipzig, in dem weiterhin echte Alternativen für Städte und Lebensformen entwickelt werden. Indem die Heterogenität durch zahlreiche Hausprojekte, Lebensmittelkooperativen, alternative Bildungsangebote, Vereine und Verbände bewahrt bleibt und diese solidarische Ökonomie bewusst seitens der Kommunalpolitik gefördert wird.

Im Grunde reicht es vorerst, wenn möglichst viele Menschen am 12. Januar auf die Straße gehen und damit ein Zeichen für ein solidarisches Zusammenleben setzen. Evolution geschieht sowieso – auch ohne Träumereien.

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