Leipzig steht, was die Beschäftigung mit den nötigen Infrastrukturen für eine nachhaltige Stadt betrifft, noch ganz am Anfang. Es wird Jahrzehnte dauern, bis sie sich aus den Zusammenhängen einer auf exzentrisches Wachstum fokussierten Stadt des 20. Jahrhunderts gelöst haben wird. Noch dominieren die alten Trends. Angefangen bei der zunehmenden Motorisierung bis hin zu den wuchernden Einkaufs-Centern.

Nicht alles ist so gewollt von der Stadtpolitik. Etliches muss man hinnehmen wie Regen, Schnee und Nebel, denn die überregionalen Prozesse werden fast alle von anderen Prämissen bestimmt – mal in großen Konzernzentralen, wo es nur um schieres Wachstum – nämlich der Absatzzahlen – geht, mal in Regierungskabinetten, wo man den Bau immer größerer und breiterer Autobahnen als Motor für noch mehr Wachstum begreift und dagegen die Siedlungsstrukturen im ländlichen Raum aushungern lässt, mal durch schiere Not, weil Tausende junger Menschen natürlich auf der Suche sind nach Orten, an denen sich ein Leben lohnt.

Ein Ergebnis ist das anhaltende Wachstum der Autobestände in der Stadt. 4.500 neue Fahrzeuge kamen 2011 hinzu, während die Bevölkerungszahl um rund 9.000 anwuchs. Die Neuankömmlinge werden nicht automatisch zu Radfahrern und Straßenbahnbenutzern. So etwas braucht Zeit. Es ist ein Lernprozess, den die ÖPNV-Anbieter mit ihren komplizierten Tarifen nicht einfacher machen.

Und natürlich merken es gerade die jungen Leute, wenn die Infrastrukturen Löcher haben. Bestes Beispiel: die Kindertagesstätten in Leipzig, an denen es mangelt, weil die Geburtenzahlen steigen. Im Ortsteilkatalog spiegelt sich das aller zwei Jahre in der Rubrik “Infrastruktureinrichtungen”. Der “Ortsteilkatalog” verrät auch, wie lang die Bremswege sind, um eine alte Politik-Entscheidung zu revidieren und ihr eine neue Richtung zu geben. Der eigentliche Tag, an dem begriffen wurde, dass auf einmal neue Handlungszwänge entstanden, war irgendwann um den 4. Januar 2006 herum, als Verwaltungsbürgermeister Andreas Müller in die Geburtsklinik marschierte und Nina Patrizia als 500.000ste Leipzigerin begrüßte.

Da war es längst geschehen. Die Schwelle von 500.000 Einwohnern hatte Leipzig schon 2005 überschritten. Am 31. Dezember 2005 standen 502.651 Bürger in der Statistik. Aber das war ja nicht das erste Alarmzeichen. Das war der Anstieg der Geburtenzahlen über den Wert von 4.000. Mitte der 1990er Jahre war der Wert auf rund 2.500 abgestürzt. (Diese Jahrgänge sind übrigens seit 2010 in der Berufsausbildung angekommen und sorgen in etlichen Branchen mittlerweile für einen spürbaren Nachwuchsmangel.)Leipzig blutete damals regelrecht aus und logischerweise hatte man etliche Entscheidungen getroffen, Infrastrukturen zurückzubauen. In Leipzig betraf das das in DDR-Zeiten breit ausgebaute Netz von Kindertageseinrichtungen – die freilich in Teilen auch in Gebäuden untergebracht waren, die entweder nach heutigen Maßstäben gar nicht dafür genutzt werden dürften und/oder auch noch in Privatbesitz waren. Seinerzeit wurden auch Tausende – vor allem junger – Kindergärtnerinnen entlassen. Es war ja nicht absehbar, ob der leichte Geburtenanstieg ab 1996 ausreichen würde für eine Trendwende. 1998 wurden erstmals wieder über 3.000 Babys in Leipzig geboren. Die Marke von 4.000 wurde dann 2004 geknackt. Womit man bei jenem Bürgermeisterbesuch in der Klinik am 4. Januar 2006 wäre.

Noch 2005 waren sechs Kindertagesstätten aus der Bilanz verschwunden. Was noch nicht hieß, dass es Engpässe gab. Aber es hieß, dass es bald Engpässe geben könnte. Denn mit 188 Einrichtungen hatte man das Kita-Netz an die Zahlen von 2004 angepasst. 2006 gab es 4.410 Geburten. Die Entscheidung, wieder Kita-Kapazitäten aufzubauen, war schon 2005 gefallen. Auch deshalb war ja Andreas Müller in die Klinik marschiert. Man hatte schon so ein Gefühl, dass der Trend anhalten könnte. Nur die Dimension war noch nicht klar. 2006 wurden vier neue Einrichtungen eröffnet, 2007 weitere fünf.

2008 wurden erstmals wieder über 5.000 Babys in Leipzig geboren. Fünf weitere Einrichtungen wurden eröffnet. 2009 kamen nochmal sechs hinzu, 2010 waren es dann freilich nur zwei. 2011 dann nur drei, obwohl die Geburtenzahlen mittlerweile auf über 5.600 geschnellt war. Ab 2010 lief die Entwicklung auseinander. Gründe dafür gibt es mehrere. Bauverzögerungen gehören dazu, aber auch die Tatsache, dass einige Träger sich mittlerweile übernommen hatten. Spätestens ab 2010 hätte Leipzig dringend Investitions-Unterstützung vom Freistaat gebraucht. Bekommen wird Leipzig die erst 2013.

Bei Schulen ist es ähnlich. Aber dieses Thema wird im Ortsteilkatalog nicht extra abgebildet.

Abgebildet aber wird das Thema “Einzelhandelsversorgung”. Immerhin ein Kapitel, bei dem die Stadt so gern steuern möchte. Notwendig wäre es. Denn eine kluge Organisation des Einzelhandels wäre ein wichtiger Faktor zur (Wieder-)Belebung wichtiger Magistralen – und gleichzeitig zur Reduzierung des motorisierten Individualverkehrs. Dass beim Einzelhandel durch das Wuchern der Center vor der Stadt einiges aus dem Ruder gelaufen war, hatte man schon 1999 begriffen. Da wurde die erste Version des Stadtentwicklungsplans (STEP) Zentren aufgelegt, mit dem Leipzig zumindest im Stadtgebiet dem Wildwuchs gegensteuern wollte. Es wurden darin – neben dem A-Zentrum City – zwei B-Center (Paunsdorf und Grünau), mehrere C-Zentren und die eher ortsteilbezogenen D-Zentren definiert. Manches war zuvor in Werkstätten erarbeitet worden. Im Wesentlichen ging es darum, Einzelhandel-Ansiedlungen in diesen Zentren zu konzentrieren.

Einiges davon ging nicht auf, anderes ging in die Hose. 2009 hatte die Stadt mit der Neufassung des STEP Zentren die Chance, umzusteuern. Einige Korrekturen findet man dort auch. Aber auch Center-Ansiedlungen sind Prozesse, die langfristige Wirkungen haben: auf Kundenströme, Kaufkraftflüsse, Verkehrsmittelwahl und Händlerexistenzen. Womit Einzelhandelspolitik eigentlich ihre Seite als Wirtschaftspolitik zeigt. Aber kaum etwas zeigt so deutlich die Macht der großen Spieler (und die Ohnmacht politischer Steuerung) auf dem “Markt” wie die Einzelhandelslandschaft.

Die Zahlen dazu gibt’s alle morgen an dieser Stelle.

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