Paul M. Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe e.V. (BIAJ) macht eigentlich etwas ganz Einfaches: Er nimmt Politiker beim Wort und rechnet mit ihren Zahlen. Das Ergebnis ist dann in der Regel das, was nie ein Politiker gesagt hat, was die Betroffenen der deutschen Arbeitsmarktpolitik aber in der Realität erleben. Gerade befanden ja die klugen Köpfe in Berlin, dass gar nicht alle einen Mindestlohn bekommen sollen. Langzeitarbeitslose schon gar nicht.

Ausnahmeregelungen wollen sie schaffen. Es könnte ja sein, es will keiner so teure Langzeitarbeitslose anstellen. Wo käme man da hin? – Das hat Schröder auch gleich ausgerechnet: auf 5,67 Euro die Stunde. Aber auch das nicht unbedingt. Wie gesagt: Wer schon lange in den Mühlen der Jobcenter mahlt, der soll nicht unbedingt damit rechnen, dass sein langes Ausharren auch noch honoriert wird.

Für “Langzeitarbeitslose im Sinne des § 18 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch” soll der Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde (brutto) ab dem 1. Januar 2015 nicht gelten, stellt Schröder schon mal fest. Die Lohnhöhe für “Langzeitarbeitslose” in den ersten sechs Monaten ihrer (neuen) Beschäftigung lässt die Bundesregierung in ihrem Entwurf des Mindestlohngesetzes (MiLoG) “nach unten offen”.

Aber kann man da irgendeine Bremshöhe ausrechnen? – Eine könnte bei “Sittenwidrigkeit” liegen, meint Schröder.

Sittenwidrig könnte dann ein Bruttolohn von unter 5,67 Euro (brutto) sein, weniger als 2/3 des Mindestlohns von 8,50 Euro. Da wird er schon ein bisschen sarkastisch: “Von der ‘fürsorglichen Leistung’ der schwarz-roten Bundesregierung ‘für Langzeitarbeitslose’, (weiterhin) für 5,67 Euro (brutto) pro Stunde (oder weniger) arbeiten zu dürfen, sollen offensichtlich möglichst viele ‘Langzeitarbeitslose’, gegebenenfalls mehrfach ‘profitieren’ können.”

So denkt deutsche Politik augenscheinlich tatsächlich: Für Langzeitarbeitslose sei es ja schon ein Gewinn, wenn sie für – nicht zum Lebensunterhalt ausreichende – 5,67 Euro pro Stunde malochen dürfen.

Im Gesetzentwurf heißt es wohl auch deshalb “Langzeitarbeitslose im Sinne des § 18 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch” und nicht “Langzeitarbeitslose im Sinne des § 18 Absatz 1 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch”, stellt Schröder fest, der mittlerweile weiß, dass solche Feinheiten in der bürokratischen Wortwahl meist genau das bezeichnen, was sie meinen: Die Aufhebung eines ganzen Absatzes.

“Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat Anspruch auf Zahlung eines Arbeitsentgelts mindestens in Höhe des Mindestlohns durch den Arbeitgeber.”

“Die Höhe des Mindestlohns beträgt ab dem1. Januar 2015 brutto 8,50 Euro je Zeitstunde.” (§1 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 Mindestlohngesetz)

So ist es formuliert. Aber: Für “Langzeitarbeitslose” soll dies nicht gelten.

In den “Schlussvorschriften” des Gesetzentwurfs der Bundesregierung (“§ 22 Persönlicher Anwendungsbereich”) heißt es: “Für Arbeitsverhältnisse von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die unmittelbar vor Beginn der Beschäftigung langzeitarbeitslos im Sinne des § 18 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch waren, gilt der Mindestlohn in den ersten sechs Monaten der Beschäftigung nicht.”

Das liest sich wie ein Strafparagraph aus dem Strafgesetzbuch. Aber in wohlmeinender Fürsorge haben es die regierenden Politiker wohl wirklich gut gemeint. Schröder: “Zutiefst besorgt um das Wohl der ‘Langzeitarbeitslosen’ begründet die schwarz-rote Bundesregierung dies in ihrem Gesetzentwurf wie folgt: ‘Satz 1 regelt, dass der Mindestlohn in den ersten sechs Monaten der Beschäftigung nicht für Arbeitsverhältnisse von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gilt, die unmittelbar vor Beginn der Beschäftigung langzeitarbeitslos im Sinne des § 18 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch waren. Für Langzeitarbeitslose ist der Wiedereinstieg in das Arbeitsleben oftmals mit nicht unerheblichen Schwierigkeiten verbunden. Die Regelung ist darauf gerichtet, den Beschäftigungschancen von Langzeitarbeitslosen – vor allem in der Einführungsphase des Mindestlohns – in besonderem Maße Rechnung zu tragen.'”

Als wenn nicht genau das nun seit 2005 genauso wenig funktioniert hat wie davor: Die Integration von Langzeitarbeitslosen gehört zum größten Misserfolg der so genannten “Hartz-Reform”. Stattdessen hat man sogar jene Beschäftigungsbereiche wegrationalisiert, in denen Menschen, die sowieso schlechtere Chancen auf dem 1. Arbeitsmarkt haben, gesellschaftlich tätig werden könnten. Aber die Logik der deutschen Politik ist bestechend: Wenn man die Menschen praktisch nicht in den 1. Arbeitsmarkt bekommt, – dann muss man ihre Integration in den 1. Arbeitsmarkt eben forcieren.

Und in dieser Logik stört natürlich der Mindestlohn. Welcher “Mindestlohn” für Langzeitarbeitslose und die anderen nach § 22 MiLoG vom Mindestlohn ausgeschlossenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gilt, regelt der Gesetzentwurf nicht, stellt Schröder fest. “Das heißt: Die Lohnhöhe ist ‘nach unten offen’, sofern nicht ‘sittenwidrig’. In den Fachlichen Hinweisen zur ‘Zumutbarkeit’ (§ 10 SGB II) heißt es dazu: ‘Sittenwidrigkeit ist für die Fälle anzunehmen, in denen die Lohngestaltung durch ein auffälliges Missverhältnis gegenüber dem allgemeinen Lohnniveau für vergleichbare Arbeiten gekennzeichnet ist. Ein solch auffälliges Missverhältnis liegt nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts vor, wenn die Entlohnung nicht einmal 2/3 eines in der betreffenden Branche und Wirtschaftsregion üblicherweise gezahlten Tariflohns beträgt (Urteil vom 22.04.2009, 5 AZR 436/08). Legt man den Mindestlohn von 8,50 Euro (brutto) zugrunde, ergäbe sich daraus rechnerisch ein ‘Mindestlohn für Langzeitarbeitslose’ von 5,67 Euro (brutto) (8,50 mal 2 geteilt durch 3; aufgerundet!). Da dieser ‘Mindestlohn für Langzeitarbeitslose’ im Mindestlohngesetz (bisher) nicht geregelt ist, ergeben sich sicher auch in Zukunft noch ‘legale Möglichkeiten’, die 5,67 Euro zu unterschreiten.”

Wer kommt für diese “fürsorgliche Leistung” der Bundesregierung in Frage und darf nach Beendigung der Arbeitslosigkeit für weniger als 8,50 Euro arbeiten?

“Offensichtlich möchte die Bundesregierung, dass möglichst viele ‘Langzeitarbeitslose’ von dieser Regelung ‘profitieren’ – nicht ‘nur’ die ‘Langzeitarbeitslosen im Sinne des § 18 Absatz 1 SGB III’.” Denn diesen Absatz hat man ja in der Formulierung wohlweislich weggelassen. Und wenn man Absatz 1 weglässt, gilt logischerweise auch Absatz 2. Und § 18 Absatz 2 SGB III ermöglicht, dass für diese “Leistung, die Langzeitarbeitslosigkeit voraussetzt”, eine Vielzahl von “Unterbrechungen der Arbeitslosigkeit innerhalb eines Zeitraums von fünf Jahren unberücksichtigt bleiben”.

Dazu gehören Zeiten einer Maßnahme der aktiven Arbeitsförderung oder zur Eingliederung in Arbeit nach dem Zweiten Buch, Zeiten einer Krankheit, einer Pflegebedürftigkeit oder eines Beschäftigungsverbots nach dem Mutterschutzgesetz, Zeiten der Betreuung und Erziehung aufsichtsbedürftiger Kinder oder der Betreuung pflegebedürftiger Angehöriger, Beschäftigungen oder selbständige Tätigkeiten bis zu einer Dauer von insgesamt sechs Monaten, Zeiten, in denen eine Beschäftigung rechtlich nicht möglich war, und kurze Unterbrechungen der Arbeitslosigkeit ohne Nachweis.

Ist es so gemeint? – Paul M. Schröder traut den “Wohltätern” jedenfalls nicht über den Weg: “Die Zahl der ‘Anspruchsberechtigten’ würde sich durch die ‘unberücksichtigten Unterbrechungen’ erheblich erhöhen – und vermutlich auch die ‘Identifizierung’ von ‘anspruchsberechtigten Langzeitarbeitslosen’ durch die Jobcenter und Agenturen für Arbeit, und übrigens auch durch die ‘Anspruchsberechtigten’ selbst, erheblich erleichtern. Mag sein, dass es sich hierbei um eine bösartige Interpretation des Gesetzentwurfs der Bundesregierung und ihres zutiefst sozialen Anliegens handelt.”

Sein komplettes Statement: www.biaj.de/images/stories/2014-04-24_mindestlohn-nicht-fuer-langzeitarbeitslose.pdf

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar