Die Einführung des Mindestlohns ab dem 1. Januar 2015 ist beschlossen. Irgendwie haben die Marketingstrategen der großen Lohnaufweichung im Herbst 2013 unterschätzt, dass eine SPD in der Regierung durchaus noch die Kraft haben könnte, so eine Neujustierung in der Arbeitsmarktpolitik vorzunehmen. Ein ganzes Jahr hat man gebraucht, um die Argumentation neu aufzumunitionieren. Jetzt schießt die "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" (INSM) aus allen Rohren.

Schon am 6. November veröffentlichte sie eine Auftragsarbeit in ihrem Sinn, die von Prof. Ronnie Schöb zusammengestellte Studie “Wie kann es in Zeiten des Mindestlohns gelingen, den Einstieg in Arbeit offenzuhalten?”, mit der argumentativ untermauert werden sollte, dass gerade Langzeitarbeitslose unter den Folgen der Einführung des Mindestlohn leiden würden – was dem Wirtschaftsprofessor der Freien Universität Berlin freilich nicht zu belegen gelang.

Aber es gibt ja da noch das Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln, mit dem die INSM schon immer gut zusammenarbeiten konnte. Das bekam einen ganz ähnlichen Auftrag von der wirtschaftsnahen Lobbyorganisation. Das Ergebnis fiel deutlich umfangreicher und substanzieller aus. Am Dienstag, 11. November, hat die INSM das Papier veröffentlicht. Und man glaubt bei der INSM jetzt tatsächlich, Argumentationsmaterial in der Hand zu haben – gar noch belegen zu können, dass “ohne flexible Beschäftigungsformen (…) Langzeitarbeitslosen wichtige Brücken in den Arbeitsmarkt” fehlen.

Oha. Steht das wirklich so in dem 49-Seiten-Papier? Oder steht gar etwas anderes drin, man liest es sich nur halt so zurecht, wie man’s braucht?

Die INSM: “78 Prozent der bei der Jobsuche erfolgreichen Langzeitarbeitslosen ist durch sogenannte atypische Beschäftigungsverhältnisse wie Zeitarbeit, geringfügige Beschäftigung, Teilzeit oder befristete Verträge der Einstieg in Arbeit gelungen. In der Studie ‘Einstieg in Arbeit – die Rolle der Arbeitsmarktregulierung’ warnt das Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW) vor einer stärkeren Regulierung dieser Beschäftigungsverhältnisse. Die Große Koalition plant unter anderem eine strengere Regulierung der Zeitarbeit. Dies könnte mit Beschäftigungsverlusten und einem Anstieg der Arbeitslosigkeit einhergehen, so die Autoren der Studie, die im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) erstellt wurde.”

“Die Agenda-Reformen haben eine erhebliche Dynamik am Arbeitsmarkt, besonders beim Einstieg in Arbeit entfacht. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen sank seit 2005 von 1,8 auf 1,1 Millionen. Der Niedriglohnbereich sowie atypische Beschäftigungsformen haben dazu einen enorm wichtigen Beitrag geleistet”, wird Holger Schäfer, Arbeitsmarktexperte beim IW Köln und Autor der Studie, zitiert. Die Studie zeige auch: Eine zusätzliche Regulierung der Zeitarbeit würde vor allem Geringqualifizierte treffen. Ein Viertel der gering qualifizierten Arbeitslosen, die zwischen 2005 und 2012 eine Beschäftigung gefunden hätten, hätten den Einstieg über die Zeitarbeit geschafft.

Ist nur die Frage: wohin? In eine Kette von Zeitarbeitsverträgen vielleicht?

“Unsere niedrigen Arbeitslosenzahlen und den hohen Beschäftigungsstand verdanken wir unserem flexiblen Arbeitsmarkt. Die Bundesregierung ist dabei, diese Errungenschaften abzuwickeln. Sie riskiert enorme Beschäftigungsverluste und steigende Arbeitslosigkeit”, meint dazu Hubertus Pellengahr, Geschäftsführer der INSM.

Ist dem wirklich so? – Das Material, das Holger Schäfer und Kollegen da aufbereitet haben, hat es nicht einmal in sich. Es wirkt vertraut. Denn es beschreibt tatsächlich das Problem, das Langzeitarbeitslose und Geringqualifizierte auf dem zunehmend spezialisierten deutschen Arbeitsmarkt seit Jahrzehnten haben. Die Frage ist nur: Welche Schlussfolgerungen zieht man daraus?

Schäfer und Kollegen haben durchaus ernsthaft die wichtigsten Daten zusammengetragen, haben statistisch ausgewertet, wer mit welchem Schwierigkeitsgrad in Arbeit kommt und wer echte Probleme hat – und vor allem, warum.

Und auch die Arbeitsmarktspezialisten der mitregierenden SPD werden bei den meisten Passagen wohl zustimmen. Etwa bei dieser, die die Ausgangslage beschreibt: “Inwieweit und wie schnell ein Einstieg in Arbeit gelingt, hängt wesentlich von der Qualifikation ab, die ein Arbeitnehmer mitbringt. Das liegt nicht zuletzt an der sich ändernden Nachfragestruktur. Einfache Arbeit, die von Personen ohne spezielle Qualifikationen ausgeführt werden kann, wird zunehmend weniger nachgefragt. Erstens können einfache Tätigkeiten mit zunehmendem technischen Fortschritt leichter automatisiert werden, und zweitens besteht die Möglichkeit, diese Tätigkeiten beziehungsweise die aus ihnen entstandenen Güter aus anderen Ländern mit geringeren Lohnkosten zu beziehen. Demzufolge haben Personen ohne Berufsausbildung größere Schwierigkeiten, im Arbeitsmarkt Fuß zu fassen.”

Das galt so in den 1990er Jahren schon, als das Thema Langzeitarbeitslosigkeit und niedrige Qualifikationen sich so langsam zum brennenden politischen Problem auswuchs. Das galt so 2002 bis 2005, als nach und nach die “Agenda 2010” in Gesetze gegossen wurde. Und das gilt heute noch genauso – sogar noch verschärft. Wer nicht frühzeitig einen möglichst guten Schulabschluss und eine möglichst hochwertige Berufsqualifikation erwirbt, hat kaum noch Chancen, auf dem deutschen Arbeitsmarkt eine vollwertige und gut bezahlte Tätigkeit zu finden.

Und daran hat auch die “Agenda 2010” nichts geändert mitsamt all den atypischen Beschäftigungsverhältnissen, die die INSM jetzt so anpreist wie knusprige Bratwurst. Von Seite 13 bis Seite 17 findet man etwas, was man von Seite der neoliberalen Arbeitsmarktreformer so eigentlich nicht erwartet hätte: eine Auswertung der diversen Reformbausteine der “Agenda 2010” (von denen ja bekanntlich die meisten längst wieder abgeschafft wurden). Und das zentrale Ergebnis findet man im Fazit auf Seite 17 sehr deutlich formuliert: “Die günstige Arbeitsmarktentwicklung, die vom Jahr 2006 an in Deutschland zu beobachten war, kann nicht auf eine einzelne Ursache zurückgeführt werden. So haben unter anderem ein günstiges konjunkturelles Umfeld, ein demographisch stagnierendes Arbeitskräfteangebot und eine moderate Lohnpolitik zur Gesundung des Arbeitsmarktes beigetragen. Da der Wende zum Besseren jedoch unmittelbar die Umsetzung der Reformen vorausging, liegt die Vermutung nahe, dass diese zumindest teilweise beteiligt waren.”

Für das IW Köln eine durchaus bedenkenswerte Formulierung: Die “Agenda 2010” hat die Verbesserung der Arbeitsmarktsituation nicht bewirkt, sie war bestenfalls “teilweise beteiligt”.

Das ist etwas ganz anderes als das, was Hubertus Pellengahr herausliest.

Stattdessen führt auch Schäfer drei andere Ursachen an, die wesentlich stärker auf die Arbeitsmarktentwicklung einwirkten: 1. ein günstiges konjunkturelles Umfeld, 2. das demografisch stagnierende Arbeitskräfteangebot und 3. die (sehr) moderate Lohnpolitik der Gewerkschaften. Vor allem Letzteres hat dafür gesorgt, dass die Löhne in Deutschland international wieder konkurrenzfähiger wurden.

Aber da ist doch dieser Triumphschrei, die “Agenda 2010” hätte gerade den vorher schon schwer vermittelbaren Langzeitarbeitslosen neue Chancen eröffnet, in Arbeit zu kommen? – Nicht wirklich, stellen auch Schäfer und Kollegen fest, nachdem sie eifrig analysiert haben: “Wer schafft den Einstieg am Arbeitsmarkt?” Denn am häufigsten profitiert von den neuen, atypischen Beschäftigungsmodellen haben so genannte Einsteiger, Menschen also, die erstmals ins Berufsleben eintraten oder nach längerer (Baby-)Pause mit einem flexiblen Berufseinstieg den Neuanfang wagten.

Die aber, über die am lautesten gejammert wurde – 2002 ff. und heute wieder -, die haben am allerwenigsten davon profitiert. In der Auswertung auf den Seiten 28 bis 29 nachzulesen: “Sechstens zeigen die Daten, dass Langzeitarbeitslose in der Gruppe, die eine Beschäftigung aufgenommen haben, deutlich unterrepräsentiert sind, während sie umgekehrt in der Gruppe, die fortgesetzt arbeitslos geblieben ist, rund die Hälfte der Personen ausmachen. Offensichtlich bildet demnach eine Dauer der Arbeitslosigkeit von zwölf Monaten oder mehr vor der (möglichen) Aufnahme einer Beschäftigung ein wichtiges Kriterium bzw. Hindernis für die Integration in den Arbeitsmarkt.”
Was ja wohl im Klartext heißt: Die “Agenda 2010” hat die Vermittlungshindernisse gerade für die Gruppe der Langzeitarbeitslosen nicht abgebaut. Unternehmen stellen – bei Schäfer wird das durchaus als wichtiges psychologisches Moment genannt – trotz allem lieber Leute ein, die nur möglichst kurz arbeitslos waren, besser qualifiziert und möglichst jung sind.

Direkt aus der Studie (Seite 31) zitiert: “Insgesamt lässt sich demnach insbesondere für den Wechsel von einer Periode der Arbeitslosigkeit in eine abhängige Beschäftigung festhalten, dass Ältere und Geringqualifizierte offenbar geringere Chancen auf die Aufnahme einer Beschäftigung haben. Daneben konnte gezeigt werden, dass die Dauer von Phasen der Arbeitslosigkeit in der Erwerbsbiografie und insbesondere Langzeitarbeitslosigkeit die Aufnahme einer Beschäftigung deutlich erschweren.”

Hier von “Brücken in den Arbeitsmarkt” zu reden, ist schlichtweg nicht angemessen. Auch nicht in Bezug auf die massiv ausgeweitete Zeitarbeit.

“Die vorliegenden Daten bestätigen grundsätzlich die vermuteten Schwierigkeiten von Langzeitarbeitslosen bei der (Re-)Integration in den Arbeitsmarkt”, so die Studie. Die “Agenda 2010” hat an dem Problem also nichts geändert. “Demnach spielt die zuletzt akkumulierte Dauer der Arbeitslosigkeit bei der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt eine entscheidende Rolle, da offenbar eine Entwertung des Humankapitals während der Arbeitslosigkeit stattfindet, die möglicherweise eine Signalwirkung (Stigmatisierung) erzeugt und damit den unmittelbaren Übergang in Vollzeit- bzw. Normalarbeitsverhältnisse erschwert. Umgekehrt scheinen aber gerade atypische Beschäftigungsformen sowie der Niedriglohnsektor in hohem Maße einen Weg in den Arbeitsmarkt zu ebnen. Die überdurchschnittliche Inanspruchnahme zeigt, dass entsprechende Regulierungen dieser Beschäftigungsformen möglicherweise die Persistenz von Arbeitslosigkeit verstärken könnten. Dies scheint umso wahrscheinlicher, da unter den Langzeitarbeitslosen, die in eine abhängige Beschäftigung eingetreten sind, mit rund 23 Prozent ein überdurchschnittlicher Anteil geringqualifiziert ist und sie zudem in der Erwerbsbiografie im Durchschnitt eine Dauer von gut sechs Jahren in Arbeitslosigkeit aufweisen, während diese Dauer unter allen anderen Arbeitslosen gerade 2,7 Jahre beträgt.”

So nebenbei zeigt die Studie recht gut, dass atypische Beschäftigungen vor allem von Berufseinsteigern wahrgenommen werden, in diesem Fall stark von (westdeutschen) Frauen, die gezielt eine Teilzeitbeschäftigung oder eine geringfügig entlohnte Beschäftigung suchten, während Arbeitslose stärker in niedrigentlohnter Vollzeitbeschäftigung und in befristeten Arbeitsverträgen landeten.

Aus der Studie zitiert: “Bei mehr als der Hälfte der Eintritte aus Arbeitslosigkeit erfolgte im Anschluss eine Beschäftigung im Niedriglohnsektor, und bei knapp zwei Drittel der Übergänge wies die anschließende Tätigkeit mindestens ein Merkmal einer atypischen Beschäftigung auf. Umgekehrt gelang nur knapp einem Fünftel der zuvor Arbeitslosen, die eine Beschäftigung aufgenommen hatten, im Anschluss der Einstieg in ein Normalarbeitsverhältnis, d. h. eine Beschäftigung mit einem Bruttostundenlohn oberhalb der Niedriglohngrenze, die zudem kein Merkmal einer atypischen Beschäftigung aufweist.”

Alter und geringe Qualifikation verstärken die Chancenlosigkeit: “Mit Blick auf die Gruppe der aus Arbeitslosigkeit eintretenden Personen fällt besonders auf, dass nicht nur das Bildungsniveau höher als in der Vergleichsgruppe der fortgesetzt Arbeitslosen ausfällt, sondern insbesondere der Anteil der Langzeitarbeitslosen deutlich unterrepräsentiert ist. Im Rahmen einer statistischen Regressionsrechnung konnte zudem gezeigt werden, dass nicht nur Langzeitarbeitslosigkeit die Chancen auf einen Eintritt in eine abhängige Beschäftigung signifikant senkt, sondern auch die akkumulierte Dauer der Arbeitslosigkeit in der gesamten Erwerbsbiografie einen negativen Einfluss ausübt und diese insofern ‘Narben’ hinterlässt, die offenbar eine Re-Integration in den Arbeitsmarkt erschweren.”

Der Fingerzeig geht deutlich in Richtung Politik: Das deutsche Bildungssystem genügt den Ansprüchen einer deutlich komplexer gewordenen Wirtschaft nicht mehr. Hier arbeitet Schäfer mit dem recht fragwürdigen Begriff Humankapital. Aber tatsächlich geht es hier um Bildungsniveau und Grundqualifikation der Arbeitsuchenden – beides kann man als Kapital begreifen. Wer auf dieses Kapital nicht aufbauen kann, findet kaum noch einen ordentlich bezahlten Arbeitsplatz: “Unmittelbar ist die Humankapitalausstattung der Arbeitsuchenden auch ein Ergebnis staatlichen Handelns. Zwar ist die berufliche Bildung überwiegend betrieblich organisiert, doch die schulische Bildung schafft die Voraussetzungen für die – in manchen Fällen auch fehlende – Ausbildungsbefähigung. Neben dieser bildungspolitischen Dimension existiert aber auch eine arbeitsmarktpolitische Dimension. Denn die Bildung von Humankapital hängt auch davon ab, inwieweit sich diese Investition rentiert.”

Das ist jetzt ganz von Unternehmerseite her formuliert. Denn auch Unternehmen müssen sich – bei zunehmendem Fachkräftemangel – überlegen, ob sie in die Ausbildung des eigenen Nachwuchses investieren.

Und was wird aus der Sicht des IW Köln nun der Mindestlohn tatsächlich anrichten? – “Vor dem Hintergrund der hohen Relation zwischen Mindestlohn und Durchschnittslohn (Lesch 2013) erscheint es jedoch wahrscheinlich, dass Beschäftigungsverluste auftreten werden. Ebenso wahrscheinlich ist es aber auch, dass diese sich nicht in einer sinkenden Gesamtbeschäftigung manifestieren werden. Die konjunkturelle Lage und die allgemein expansive Beschäftigungsentwicklung werden negative Wirkungen des Mindestlohns zunächst überkompensieren.”

Heißt im Klartext ja wohl, dass etliche Jobs, die nur als Niedrigjobs funktionieren, ab 1. Januar verschwinden – dass die frei werdenden Arbeitskräfte aber in anderen Branchen dringend gebraucht werden, die Gesamtbeschäftigung wird also nicht sinken. Erst in der nächsten Rezession – so Schäfer und Kollegen – könnte es Entlassungseffekte aufgrund des Mindestlohnes geben. Aber dann gilt auch wieder die Prioritätenliste, die am Anfang der Studie erwähnt wurde, dann sind es zuerst Konjunktur, Arbeitskräfteangebot und die Lohnpolitik insgesamt, die entscheiden, ob und wie die Arbeitslosenzahlen steigen.

Die atypischen Beschäftigungsverhältnisse kaschieren nur die eigentlichen Ursachen der Langzeitarbeitslosigkeit, beheben sie aber nicht. Das, was Hubertus Pellengahr aus der Studie herausliest, steht so nicht wirklich drin: “Unsere niedrigen Arbeitslosenzahlen und den hohen Beschäftigungsstand verdanken wir unserem flexiblen Arbeitsmarkt.”

Aber der Ausspruch deutet an, mit welchem Motiv die INSM jetzt trommeln wird, um wenigstens die Ausweitung des Mindestlohnes und eine umfassende Regulierung der Zeitarbeit zu verhindern. Auch wenn beides den Langzeitarbeitslosen gar nichts bringt. Die stehen weiter in den Statistiken der Jobcenter und kommen aus dieser Bedürftigkeitsmühle auch nach zehn Jahren “Hartz IV” nicht heraus.

Die Meldung der INSM: www.insm.de/insm/Presse/Pressemeldungen/pressemeldung-einstieg-in-arbeit.html

Die Studie des IW Köln als PDF zum Download.

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